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Sozialversicherung: Spielzeug für die ÖVP

Vier Gründe, warum die „Reform“ der Sozialversicherung ein Mist ist.

Die ÖVP verhält sich wie ein kleines Kind, das alles Spielzeug haben will. Mit ihrem Angriff auf die Sozialversicherung gefährdet sie die soziale Sicherheit für alle.

Vieles haben die Regierungsmitglieder bei ihrer Präsentation der „Sozialversicherungsreform“ erzählt: Über versteinerte Strukturen, reformunwillige Träger, verschleuderte Gelder für Studien, über den Ärger der Versicherten und ungleiche Leistungen trotz gleicher Beiträge. Einige dieser Punkte werden zu Recht kritisiert. Doch der größte Teil der genannten Probleme wird durch die angekündigten Schritte der Regierung weder angegangen noch gelöst. Und für jene Punkte, die tatsächlich angegangen werden, brauchte es keine Zerschlagung des bestehenden (und trotz aller Kritik funktionierenden) Systems. Warum also das Ganze?

1. Die falsche Reform: mit halber Wahrheit zum versteckten Ziel

Es ist tatsächlich nicht notwendig, dass Österreich 21 Sozialversicherungsträger hat. Und in Wahrheit sind es nicht einmal nur 21. Da kommen die Pensionsämter der Bundes und der Länder (insgesamt 10) sowie die Krankenfürsorgeanstalten (KFA) der BeamtInnen einiger Länder und Statutarstädte (wie etwa Wels, Steyr oder Baden; insgesamt 16) dazu. Zusammen sind es also zumindest 47 Institutionen, die mit gesetzlicher Krankenversicherung, Pensionen oder Unfallversicherung beschäftigt sind (In Deutschland sind es übrigens über 400, in der Schweiz etwa 90). Wenn die Bundesregierung nun behauptet, diese Zahl auf vier oder fünf zu reduzieren, so schwindelt sie: Es werden nach der Reform zwischen 30 und 36 sein.

Welche Versicherungsträger „überleben“ werden und welche nicht, folgt dabei keinem intelligenten Prinzip. Einen echten Gewinn für die Versicherten gäbe es nur, wenn die derzeitigen Sonderversicherungsträger, vor allen die Sozialversicherungsanstalt der Gewerblichen Wirtschaft (SVA) und jene der BeamtInnen (BVA, und mit dieser gemeinsam auch die in den KFAs versicherten BeamtInnen) aufgelöst und die Versicherten in die Gebietskrankenkassen überführt werden würden. Diese Sonderversicherungsträger profitieren nämlich von einer besonders günstigen „Risikoauslese“: Sie versichern überdurchschnittlich viele Menschen mit hohen, sicheren Einkommen und ohne Einkommensausfälle (wie etwa Arbeitslosigkeit, bei der viel niedrigere Versicherungsbeiträge anfallen). Darüber hinaus haben zum Beispiel BeamtInnen ein deutlich niedrigeres Erkrankungsrisiko als etwa Bauarbeiter oder Pflegepersonen. Nicht zuletzt aus diesem Grund mach(t)en etwa die SVA oder die BVA in der Vergangenheit in der Krankenversicherung Überschüsse (die übrigens seit 2014 mit einem üblen Trick für das Bundesbudget abgezweigt werden). Überschüsse, die andere Träger dringend brauchen.

Um bessere Leistungen für alle Versicherten zu erreichen, wäre es also sinnvoll, die erwähnten Sonderversicherungsträger aufzulösen und alle Versicherten in die Gebietskrankenkassen zu überführen. Die Versicherten in den Sonderversicherungsträgern müssten dann keine kontraproduktiven Behandlungsbeiträge mehr bezahlen, und in den GKKs wäre mehr Geld und ein solidarischer Ausgleich unter allen Menschen in Österreich da.

Genau das aber wollen ÖVP und FPÖ nicht. Stattdessen sollen zwei neue Systeme um die von der ÖVP kontrollierten SVA (unter Einbeziehung der SV der BäuerInnen) und der BVA (unter absurder Einbeziehung der Versicherungsanstalt Eisenbahn und Bergbau VAEB) geschaffen und mehr oder minder alle anderen (die GKKs und vielleicht die Betriebskrankenkassen, jedoch nicht die KFAs) in einen neuen Träger hineingestopft werden. Sachlich ist das weder sinnvoll noch zielführend: Bereits 2006 scheiterte eine geplante Fusion von SVA und SVB an den unterschiedlichen Bedürfnissen der Versichertengruppen. Und was genau EisenbahnerInnen mit BeamtInnen gemeinsam haben sollen, ist nicht leicht erkennbar. Etwa ein Achtel der Versicherten der VAEB ist aus früheren ÖBB-Zeiten noch beamtet. In 10 Jahren wird es keine BeamtInnen in diesem Bereich mehr geben.

Übrig bleiben die Gebietskrankenkassen mit dem höchsten Versicherungsrisiko und den unsichersten Einnahmen. In ihnen ist der weitaus größte Teil der Menschen in Österreich versichert. Die Versicherten der zukünftigen Großkrankenkasse werden also unter den Druck der leer(st)en Kassen kommen. Das bedeutet Leistungskürzungen, schlechteren Zugang zur Versorgung,… und – das schlagen Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung seit Jahren vor – möglicherweise auch einen Behandlungsbeitrag bei ärztlicher Behandlung.

Das ist keine Polemik: Die GKKs – und damit die zukünftige Gesundheitskasse – haben die schwierigste Versichertengruppe, die anderen haben das meiste Geld. Das kann sich auf Dauer so nicht ausgehen.

2. Die falsche Machtverteilung: Alles unter ÖVP-Kontrolle

Nachdem ernstzunehmende ökonomische Gründe zur Erklärung der angekündigten Änderungen ausscheiden, muss eine andere Erklärung gesucht werden. Die Generalversammlungen (das sind quasi die Parlamente) der Träger kommen auf Basis der Kammerwahlergebnisse zu Stande. Wo ArbeitnehmerInnen versichert sind, sind daher die Arbeiterkammerwahlen, wo Selbständige oder BäuerInnen versichert sind, die Wirtschafts- oder Landwirtschaftskammerwahl von Belang. Und da die Fraktion sozialdemokratischer GewerkschafterInnen in sieben von neun Landes-Arbeiterkammern in der Mehrheit ist, werden sieben von neun Gebietskrankenkassen sozialdemokratisch geführt. Sozialdemokratische Mehrheiten gibt es auch in der Pensionsversicherung, in der VAEB und bei den fünf Betriebskrankenkassen. Die ÖVP wiederum kontrolliert die SVA der gewerblichen Wirtschaft, jene der BäuerInnen (SVB) und der BeamtInnen (BVA) sowie die Unfallversicherungsanstalt (AUVA). Eine politische Zuordnung verbeten wird sich die Versicherungsanstalt der NotarInnen (die übrigens in den Regierungsplänen nirgendwo genannt wird).

Sowohl nach Versicherten als auch nach Trägern gerechnet ist die Sozialversicherung damit dem direkten Einfluss der ÖVP bisher weitgehend entzogen. Wirklich fuhrwerken konnte die ÖVP bisher nur bei den Selbständigen und den BäuerInnen. Selbst bei den BeamtInnen und in der Unfallversicherung musste auf andere Gruppen ein wenig Rücksicht genommen werden.

Das alles wird durch die neue Struktur verändert: In Zukunft stehen der allenfalls sozialdemokratisch geführten Gesundheitskasse und der Pensionsversicherung drei ÖVP-geführte Träger gegenüber (die Selbständigenkasse, die BeamtInnenkasse und die AUVA). Das ergäbe selbst nach einer von der Regierung angestrebten Auflösung der AUVA einem – gemessen an der Zahl der Versicherten in den verschiedenen Zweigen und den Wahlergebnissen der jeweiligen Kammerwahlen – überproportionalen Einfluss der ÖVP. Den 3,7 Millionen Mitgliedern der Arbeiterkammern stehen nämlich nur 517.000 Mitglieder der Wirtschaftskammer, etwa 160.000 BäuerInnen und 550.000 BeamtInnen und Vertragsbedienstete gegenüber.

3. Die Abschaffung der Demokratie in der Sozialversicherung

Um vollen Zugriff auf die Strukturen der Sozialversicherung zu erhalten, sollen die Beschickungsmodalitäten in die Kassen der ArbeitnehmerInnen jedoch zu Gunsten der ÖVP verändert werden. Werden derzeit 80% der Mitglieder einer Generalversammlung in den Gebietskrankenkassen (die etwa über Budgets oder besondere Gesundheitsprogramme entscheiden) nach den Ergebnissen der Arbeiterkammerwahlen und 20% von der Wirtschaftskammer bestellt, so sollen zukünftig jeweils 50% von Wirtschaftskammer und Arbeiterkammern entsandt werden (in der Pensionsversicherung waren es bisher 2/3 DienstnehmerInnen und 1/3 Wirtschaftskämmerer; in der AUVA 50:50). Das ist absurd, denn weder in der PVA noch in den Gebietskrankenkassen ist auch nur ein einziger oder eine einzige Selbständige versichert. Und es verletzt die österreichische Bundesverfassung, in deren Art. 120c es heißt: „Die Organe der Selbstverwaltungskörper sind aus dem Kreis ihrer Mitglieder nach demokratischen Grundsätzen zu bilden.“

Nun war auch die ( seit 1956 geltende) bisherige Regelung mit 20% an VertreterInnen in dieser Hinsicht verfassungsrechtlich fragwürdig. Mitglieder der Wirtschaftskammer können in der Regel nämlich keine Versicherten, also keine Mitglieder, einer Gebietskrankenkasse oder der Pensionsversicherungsanstalt sein. Das erklärt sich historisch und wurde auch nicht verändert, als im Jahr 2008 die Art. 120a bis c B-VG zum Schutz der Selbstverwaltung beschlossen wurde.

In der SVA und der BVA sitzen jedenfalls keine VertreterInnen der Arbeiterkammern. Im GSVG heißt es etwa: „Jeder Versicherungsvertreter muß (…) im Zeitpunkt seiner Entsendung dem Versicherungsträger als Pflichtversicherter oder als freiwillig Versicherter angehören“(§ 197 Abs. 2 GSVG). Und fast gleichlautend im § 132 Abs. 2 BeamtInnen-Kranken- und Unfallsversicherungsgesetz: „Die Versicherungsvertreter müssen (…) im Zeitpunkt ihrer Entsendung der Versicherungsanstalt als versicherte Dienstnehmer angehören.“, sowie auch im Bäüerlichen Sozialversicherungsgesetz (§ 185 Abs. 2 B-SVG).

Allein schon aus den zitierten Bestimmungen kann geschlossen werden, dass der Verfassungsgerichtshof hier einschreiten muss. Nicht nur, dass VersichertenvertreterInnen ans Ruder gehoben werden sollen, die gar keine Versicherten in jener Einrichtung sind, deren Ruder sie übernehmen sollen. Es ist auch nicht leicht nachvollziehbar, warum das Stimmengewicht der DienstgebervertreterInnen gleich siebenmal so hoch sein soll, wie jenes von DienstnehmerInnevertreterInnen (AK: 3,7 Mio. Mitglieder; WKÖ: 517.000 Mitglieder).

Bundeskanzler Kurz hat auf die Teilung der Beiträge auf DienstnehmerInnen und DienstgeberInnen verwiesen, die so abgebildet werden soll. Doch das ist unsinnig: Die DienstgeberInnenbeiträge sind ja nicht wirklich Beiträge der DienstgeberInnen, sondern nichts als anders bemascherlte Löhne der ArbeitnehmerInnen, die diese Gelder mit ihrer Wertschöpfung schaffen. Auch DienstgeberInnenbeiträge stammen aus der Arbeit der Beschäftigten und nicht etwa aus der Privatschatulle der DienstgeberInnen.

Im Übrigen wurde das an der Abgabenleistung orientierte Kurienwahlrecht in Österreich 1907 abgeschafft, um einer Revolte vergleichbar jener in Russland 1905 zuvorzukommen. Es ist nicht mit einer Demokratie vereinbar.

4. Und sonst? Kostenreduktionen für ArbeitgeberInnen…

Ziemlich ins Rudern gekommen sind die Regierungsmitglieder bei der Frage nach den Einsparungen, die sich aus dem neuen Organisationssystem ergeben sollen und mit etwa einer Milliarde Euro in fünf Jahren angegeben wurden. Von den nunmehr abzuschaffenden (meist ehrenamtlichen) FunktionärInnen können sie kaum kommen. Die Kosten betragen nämlich nur knapp 2 Millionen im Jahr und können daher in fünf Jahren bestenfalls ein Tausendstel der angegebenen Einsparungen bringen. Auch die Vereinheitlichung der Leistungen über alle Träger hinweg kann nur Einsparungen bringen, wenn alle Versicherung auf das unterste Niveau gebracht werden, also eine gewisse Zahl an Versicherten schlechter gestellt wird (wobei es nicht mehr sehr viele Unterschiede zwischen den Gebietskrankenkassen gibt. Die wirklich großen Brocken liegen bei der SVA und der BVA, die ja erhalten bleiben sollen). Auch der Verweis auf die fünf Rechenzentren, die zu einem zusammengelegt werden sollen, ist ein ziemlicher Murks. Die Zusammenlegung von miteinander nicht verknüpften Bereichen wie etwa ELGA, des E-Card-Systems oder der Verrechnungsdaten ist organisatorisch wie technisch (und letztlich auch datenschutzrechtlich) absurd. Und auch das Rechenzentrum der Pensionsversicherung (das auch die Pensionen des SVA verwaltet) wird sich schon allein technisch nicht in andere Rechenzentren integrieren lassen, ohne eine derzeit halbwegs funktionierende Struktur zu gefährden. Aus der Zusammenlegung der IT kann also auch nicht sehr viel Geld kommen.

Weit interessanter ist aber, was mit den angeblich einzusparenden Geldern passieren soll. Sie bleiben im System und werden für bessere Leistungen für die Versicherten verwendet, versprachen Bundeskanzler und Sozialministerin. Vizekanzler Strache war es wieder einmal, der den vereinbarten Sprechtext nicht einzuhalten schaffte: Es sei in der Koalitionsvereinbarung vorgesehen, so Strache auf eine JournalistInnenfrage, ab dem Jahr 2020 die sogenannten „Lohnnebenkosten“ zu senken, also die Dienstgeberbeiträge der Unternehmen zur Sozialversicherung. Nun ist noch gar nicht klar, wie es zu nennenswerten Einsparungen kommen soll. „Das ist Aufgabe der Selbstverwaltung“, erklärte die Sozialministerin auf Nachfrage eines Journalisten. Klar scheint aber zu sein, dass die Beiträge der DienstgeberInnen zur Sozialversicherung ab 2020 sinken. Kurz zusammengefasst: Die Regierung weiß zwar nicht, woher das Geld genau kommen soll, aber ab 2020 sinken die Beiträge der Unternehmen zur Sozialversicherung. Das egal wie (sinnbefreit) zu Schultern, ist die Aufgabe der selbstverwalteten Sozialversicherungen. Versicherte und PatientInnen kommen in dieser Erzählung nicht mehr vor.

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Lukas Wurz

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