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Eyes Wide Shut: 80 Jahre Beginn des Zweiten Weltkriegs im ORF-Fernsehen

Einige Streiflichter und Vergleiche zu den Sondersendungen des ORF rund um den 1. September 2019: Am Geschichtsbild und Gegenwartsbezug zeigt sich eine Entpolitisierung von Public History zugunsten von Seelischem und Selbstfeierung. ++++

80 Jahre seit Beginn des Zweiten Weltkriegs, dem deutschen Überfall auf Polen 1939: Der 1. September 2019 fällt in das Jahr nach dem Austro-Gedenkjahr (mit seinen runden Jahrestagen zu 1918 und 1938). Und er liegt kurz vor einem ’75er Zyklus’: bevor also die Befreiungen der Lager Auschwitz und Mauthausen (1) ein Dreivierteljahrhundert her sein werden, ebenso die Kapitulation Nazi-Deutschlands und die Atombomben auf Japan. In diesem heurigen Übergangsjahr – und zur Amtszeit einer Übergangsregierung – veranstaltet der ORF ein Geschichtsfernseh-Event zum Thema. Dies obwohl – zumal wenn Sommer heißer werden – Ende August/Anfang September kein guter Zeitpunkt für Fernseh-Events ist: Auch ältere Zielgruppen, relevant für Geschichtsfernsehen und dessen Ausstrahlungskanal ORF2 (2), sind da noch im Urlaub oder grillen – und nicht vorm Fernseher.

Clips vom Krieg

Umso bemerkenswerter, dass ORF2 am Wochenende des 31. August und 1. September 2019 Sondersendungen ausstrahlte, die ihren Live-Charakter stark betonten. Ähnlich den ZiB 2 History-Specials der letzten Jahre, mit etwas Anmutung von Echtzeit-News aus der Zeitgeschichte, moderierte Tarek Leitner, zwischen Groß-Screens und Studiogästen stehend, in beiden Sendungen kurze Clips aus dem Zweiten Weltkrieg. Diese umfassten etwa eine Sonntags-Primetime-Liveschaltung nach Gdánsk (vormals Danzig), einem der Ereignisorte des Beginns der Nazi-Invasion, und präsentierten sich insgesamt facettenreich: Die eine Sendung behandelte neben militärisch-geopolitischen Aspekten des Krieges (allerdings fast nur in Europa), sowie mit viel Augenmerk auf Holocaust und Vernichtungskrieg, die Rolle von Österreichern in der deutschen Luftwaffe und Marine oder die von Kinoklamotten-Regisseur Franz Antel als “Ostfront”-Truppenunterhalter. Die andere Sondersendung galt am Samstagnachmittag der Bundesländer-Erfahrung des Zweiten Weltkrieges: Dieser kleinteilige Zugang passte zum Format der anmoderierten Clips (wie einst im Musikfernsehen) und lief Gefahr, eine umfassendere Perspektive auf diesen Krieg und darauf, wie das Leute heute angehen könnte, zu zersprageln – in eine Art bunte Revue samt Durchdeklinieren von neun Landes(studio)-Sichtweisen auf die Nazi-Zeit.

Selfies von Nazis

Diese Kleinteiligkeit im Aufbau lässt umso deutlicher hervortreten, was die Kontinuität stiftenden Sinn-Kategorien und integrierenden Bögen in den Gedenk-Sendungen des ORF zum 1. September 1939 sind. Um es kurz vorwegzunehmen, sind dies zum einen die Psychologie der Trauma-Bewältigung, zum anderen der autoreferenzielle Verweis auf Einheitsstiftung durch das Medium bzw. die Marke ORF selbst. Unter letzterem Gesichtspunkt präsentiert sich dann mit dem Bundesländer-Parkours – um auf diesen noch einmal zurückzukommen – der zentrale Mediendienstleister der Republik, der als einziger “Anbieter” überall ostentativ lokal eingebettet ist und zugleich ‘alle Neune’ zusammenführen kann.

Die beiden ORF-Integrationsbögen treten in ihrer Spezifik hervor, wenn wir sie vergleichen – mit dem anderen öffentlich-rechtlichen Medienunternehmen in einem postnazistischen Land, das sich dem 80. Jahrestag widmete. Das ZDF, um die Jahrtausendwende der Sender mit den zahllosen Hitlers dieses, Hitlers jenes-History TV-Blockbustern Marke Guido Knopp, beschränkte sich da nun weitgehend auf zwei Dokus. Ein ZDF-History packte am 1. September unter dem Titel Der Zweite Weltkrieg – Das sollten Sie wissen Enzyklopädisches zum Thema in 44 Minuten klassisch-panoramatischer Welt(politik)geschichte, von Appeasement 1938 über Holocaust, europäischen, Afrika- und Pazifik-Krieg bis zu Nürnberger Prozessen und Konturen des Kalten Krieges. Damit ist allerdings impliziert: Mehr als ein Notpaket an ‘Wissenswertem’ – unter einem Titel, der an ein Smalltalk-Tutorial erinnert – ist nicht drin. Schon Anfang August stellte die ZDF-Doku Wir im Krieg: Privatfilme aus der NS-Zeit anhand neuer Amateurfilm-Funde Privatleben 1933-1945 in mikrohistorische Perspektiven mit sozialpsychologisch-handlungsethischem Akzent. Also mit explizitem Fokus auf die Frage: Was heißt filmisch vermittelte Zeug*innenschaft von Deportationen, was heißt eine hitlergrüßende Familie im Home Movie in Hinblick auf Alltagsvollzüge, Selbstentwürfe, Zeige-Absichten, und was heißt das ‘für uns’, also dahingehend, wie Fernsehende und Privatlebende von heute sich dazu stellen können. Viele der Filmfunde sind in Farbe. Besonders dadurch werde “eine Brücke durch die Zeit geschlagen”, sagt Historikerin Isabel Heinemann mystifizierend in der Doku über privates Bildmaterial, das zu ‘unserer’ Gegenwart, die sich so sehr übers Dokumentieren inszenierter Alltage definiert, laut und deutlich spricht. Also: vielleicht. Jedenfalls soll die Nazi-Zeit uns nahekommen (3).

Aber wie? Zumal wenn, salopp gesagt, bunt allein wohl nicht reicht – und die Nazi-Privatbilder-Archiv-Analytik ihre Andockfähigkeit an über Sozialpsychologie hinausgehende Fragen von Demokratie, Egalitarismus und citizenship noch zu erweisen hat.

Ein Stichwort dafür könnte Eyes Wide Shut lauten. Das ist der Titel von Stanley Kubricks letztem Film, einer Arthur Schnitzler-Verfilmung darüber, wie die Macht von Schuldgefühlen und Projektionen unseren Blick in die Welt auflädt. Während die ZDF-Doku mit den Home Movies ihr Geschichtsbild unter diese Prämisse der weit geschlossenen Augen stellte – das Starren auf Familien-Idyllen, an denen dechiffrierbar wird, wie sie das Grauen rundherum ausblenden, aber nicht ganz –, fiel es der ORF-Prime-Time-Sendung vom 1. September zu, die paranoide Stimmung von Eyes Wide Shut vielsagend, vielklingend, zu zitieren: Sequenzen über Besatzungsverbrechen österreichischer Nazi-Funktionäre in Polen und den Niederlanden waren mit dem ominösen minimalistischen Klavierthema aus György Ligetis Musica Ricercata unterlegt, das bei Kubrick (Tom Cruises) abgründige Wahrnehmungen und das Verbot, ihnen weiter nachzugehen, durchdringend begleitet.

Gebirgs-Geschichten vom Küniglberg

Die akzentuierte Untermalung signalisiert: Der ORF schaut hin – und schaut in die Seele. Die ist laut Schnitzler ein weites Land und hierzulande auch verortet in einem oft weißen hohen Land – im Gebirge. Dorthin führte die Freitagnacht-Doku von ORF2 unter dem Titel Blutiges Edelweiß: Mythos Gebirgsjäger. Ausgestrahlt am 30. August, eignet sich dieser Dreiviertelstünder – mehr als die ‘Live’-Sondersendungen – zur Mehrfachverwendung: Einsatz auf anderen Sendern, zu anderen Jahrestagen mit NS-Bezug.

Kleinteilig orientiert, nämlich fokussiert auf eine aus Alpin-Österreichern rekrutierte Spezialeinheit der Wehrmacht, ist auch Blutiges Edelweiß. Der enge Fokus weitet sich aber im Ausholen auf den (in Österreich zum Nationalkultur-Bestandteil erhobenen) Mythos vom Berg als existenziellem Ort – und im Entfalten eines traumatologischen Familienszenarios.
Ein ausformuliertes Drama des Augen-Verschließens und -Öffnens anhand der Erinnerungen eines Gebirgsjäger-Veteranen bzw. Erinnerungen einer Tochter, eines Sohnes an ihren Vater. Ähnlich wie es der ORF anhand Heldenmythen im Rahmen von “Anschluß”-Gedenk-Sendungen 2018 praktiziert hatte, entspinnt die Küniglberger Renommierproduktion ein Familienpsychodrama um einen innerlich verpanzerten Vater, dessen Gebirgsjäger-Division 1943 in Griechenland Massaker an Kriegsgefangenen und Zivilpersonen verübte: Von “Trauma-Arbeit” und der “Schutzschicht”, die sein Herz vor sich aufgestellt habe, ist die Rede. Impulse zur Auseinandersetzung mit Verhärtungsformen nationalistischer, militaristischer Männlichkeiten, einst gespeist aus feministischer Kritik und Theweleit light (4), münden da in Sonntagszeitungspsychologie; und die Geschichtsdurcharbeitung danach, nach dem Nationalsozialismus und seiner Gewalt, verschiebt sich vom Politisch-Gesellschaftlichen, das hier ausgeblendet bleibt, ganz ins Seelentherapeutische, das hier einen weiten Definitionsanspruch auf die Sinn-Kategorien von Public History anmeldet.

Alles live erlebt im ORF

Den ultimativen Geschichts-Definitionsmacht-Anspruch stellt allerdings der ORF mit Blick auf sich selbst: Mit dem Jahrestags-Event bekräftigt das Unternehmen seinen Status als Hüter und Generator des Erinnerns von Geschichte im Wechsel mit deren öffentlicher Veräußerung. Dazu liefern ORF-Soundbites dreier alter Männer Stichworte. Ein Mann, der bei der Wehrmacht 1939 in Warschau Zwangsarbeits-Deportationen mit abwickelte, sagt zur Primetime am 1. September: “Was wir da erlebt haben in dem Krieg, haben wir erst erfahren, wie wir vom Krieg heimgekommen sind.” Diese treffend paradoxe Aussage – was du erlebst, erfährst du erst danach – bezieht sich aufs Nicht-Sehen eigener Mitwirkung an Verbrechen. Allerdings: Erfahren wird, was im Krieg erlebt wurde, wesentlich im und durch den ORF. Dafür steht die vermutlich meistgesehene, definitiv öftest gesendete ORF-Produktion zum Kriegsbeginn-Jahrestag, nämlich der ab Mitte August intensiv eingesetzte Ankündigungsspot (der vom “Feldzug” spricht, als käme er vom Reichssender Groß-Wien) bzw. dessen markante Auftaktmontage: Hitler bellt die (schuldumkehrende) Angriffsverkündigung “Seit 5 Uhr 45 –”, und ein alter Mann ergänzt, Hitlers Tonfall imitierend, “– wird zurückgeschossen!” Was dieser Zeitzeuge damit bezeugt, ist letztlich, dass er wie soviele diesen Reichskanzler-Satz auswendig kann, weil er ihn aus dem repetitiven Geschichtsfernsehen kennt – weil er womöglich all die ORF-Erfolgsdokus aus der verflossenen Blütezeit des History TV gesehen hat.

Portisch in Person

Ein eigentümlicher Kurzschluss prägt die Geschichtsmedialisierung im ORF: Die durchdringende His/Her Master´s Voice kommt vom Küniglberg, und historisch ist die Public History selbst. Das bezeugt auch der hartnäckige Einsatz des 92-jährigen Hugo Portisch als Studiogast und Geschichtskommentator, zuletzt am 1. September: Zwar sind pädagogischer Gehalt und Stimme dünn, sein Alter aber ist imposant, ebenso die Aura von einem, der als journalistischer Historiker selbst Zeitzeuge ist – vor allem aber Geschichtsakteur, gegenüber dem wiederum ‘wir’, die wir seit den 1980ern ORF-Geschichtssendungen konsumieren, Zeitzeuginnen sind. Der Doktor Portisch! Den haben wir ja damals schon gesehen! Seine Königs-Doppelkörper-hafte Endlos-Präsenz stiftet Kontinuität der Geschichte, verwoben mit Kontinuität des Fernsehens bzw. der Marke ORF. Er personifiziert Geschichte, absolut; und Geschichte scheint ein Kontinuum absoluter kultureller Vorgaben zu sein. Zumindest wenn es nach Portischs Sendungs-Schlusswort geht (ein Live-Versprecher): “Leute, die in ein anderes Land einwandern, müssen sich mit dessen Geschichte absolut personifizieren.” (Er meinte “identifizieren” – was auch nicht besser ist, weil es auf ein Einweg-Integrations-Szenario von Migrant*innen in eine sich gleichbleibende hiesige Kultur abhebt.)

Worte sind kritisch zu deuten. Das gab Tarek Leitner in seiner darauffolgenden Abmoderation zu verstehen. Er meinte, das an diesem 1. September zum Zweiten Weltkrieg Gesendete solle Vergleiche ermöglichen – “wenn so wie heute von Mischkulturen oder vom Putzen mit Zahnbürsten schwadroniert wird”. Seine Anspielung auf aktuelle Einzelfall-Aussagen zweier FPÖ-Politiker leistete eine Herstellung von Gegenwartsbezug und Geschichtsnähe mit Sinn. Auch davor sollen die Augen nicht verschlossen sein – ohne dass es darum ginge, gute Noten für dieses und schlechte für jenes auszustellen. Fürs erste scheint es angezeigt, dies zu problematisieren: In seinen NS-Geschichtsdokus (denen weitere im Event-Maßstab folgen werden) setzt der ORF – anstelle etwa von Institutionen- oder Demokratie-Politik – auf Verletzungspsychologie und feierliche Selbstabbildung.


(1) Aber auch die Befreiung Wiens 1945: Der 13. April 1945 war in den Nachkriegsjahren als Republik-Feiertag in Diskussion.
(2) Die Dauerpräsenz von Zeitgeschichte auf dem Bildungskanal ORF3 und dessen Bespielung des 80. Jahrestages einmal beiseite gelassen.
(3) Eine andere Frage wäre, dass solch intendiertes Nahebringen heute mit einer Privilegierung von Farbfilm-Material einhergeht – samt Rhetorik à la ‘Endlich sind die Bilder gefunden, die alles so zeigen, wie es ist und nicht verfälscht in Schwarzweiß’ –, womit das informelle kollektive ‘Archiv’ des audiovisuellen Zeitgeschichts-Wissens neu konfiguriert wird.
(4) Klaus Theweleits kulturanalytisches Buch Männerphantasien wurde ab 1977 maßgeblich für eine Kritik fantasmatischer Selbstimaginationen in faschistisch-soldatischen Männerbünden

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Drehli Robnik

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