Es ist schon etwas Besonderes, etwas Auffälliges, wenn im Parlament offen diskutiert wird, wenn unterschiedliche Parteikonstellationen Beschlüsse tragen und nicht immer von vornherein sicher ist, wie eine Abstimmung ausgehen wird.
So besonders und so auffällig, dass es dafür eine eigene Bezeichnung gibt: Das „freie Spiel der Kräfte“. Eine eigenartige Beschreibung eines „Sonderfalls“ unter Menschen, die nach Art 56 der Bundesverfassung „bei der Ausübung dieses Berufes an keinen Auftrag gebunden“ sind.
Das Parlament pendelt in seinem Handlungsspielraum zwischen Durchregieren seitens der Regierung und „freiem Spiel der Kräfte“. Der Standpunkt Regierung oder Opposition bestimmt dabei oft die Blickweise. Doch wie kann parlamentarische Arbeit tatsächlich empowert werden, dass von einem „Emparlament“ gesprochen werden kann?
Viel ist in den letzten Wochen über das Wirken des Parlaments diskutiert worden. Ehemalige Abgeordnete ließen ihrem Frust medial freien Lauf und betonten das Bild des Parlaments als verlängerte Werkbank der Regierung, während neue Mandatare voller Elan und einer gewissen Unbedarftheit hinsichtlich ihres Wirkungsgrads freudig losstarteten. In einer kürzlich ausgestrahlten Ö1-Radiosendung mit stellvertretenden Klubobfrauen und -männern zu Gast, bestimmte die Nähe zur Regierung den Standpunkt. Während die Abgeordneten einer Regierungspartei wenig(er) Handlungsbedarf sahen, kritisierten die erfahrenden Oppositionsabgeordneten das Aufbrechen von Usancen, wie die Einhaltung der Informationsfristen bei neuen Anträgen (24 Stunden vor Sitzung), die mangelnde Debattenqualität und Nicht-Öffentlichkeit in den Ausschüssen, oder die gewohnheitsmäßige Vertagung der Regierungsfraktionen von unbeliebten Oppositionsanträgen. Einig war man sich in der Notwendigkeit einer Aufwertung der Unterstützungsdienste für Abgeordnete wie einem eigenen parlamentarischen Legistikdienst, der Abgeordnete bei Gesetzesfragen zur Seite stehen könnte.
Einige der folgenden Vorschläge lassen sich ohne Geschäftsordnungsreform bewerkstelligten, denn es geht um kulturelle und kommunikative Spielregeln. Die Verbesserungen lassen sich in vier Stränge unterteilen, die zu mehr öffentlichen Interesse und einer Stärkung des Handlungsspielraums des Parlaments (einem „Emparlament“) führen können:
Selbstbewusstes Rollenverständnis + mehr Expertise + mehr Zeit + mehr Öffentlichkeit und Ergebnisoffenheit = Emparlament
Es braucht ein selbstbewussteres Rollenverständnis der Abgeordneten
Das öffentliche Bild von PolitikerInnen ist nicht zuletzt auch durch Skandale wie Hypo, Eurofighter, Telekom, Buwog, etc bis zu Straches und Gudenus`sche Ibiza-Video durchgebeutelt. Und das Bild von Abgeordneten ist ebenso durchwachsen. Es gibt und gab immer einige mit medialem Star-Charakter, dann gibt es Abgeordnete, die in ihren jeweiligen Fachbereich bekannt sind, doch der größte Teil fällt öffentlich wenig bis kaum auf. Und wenn, dann meist durch Statements, die wiederum das Ansehen des hohen Hauses nicht unbedingt steigern (z.B. FPÖ-Abgeordneter Zanger als Akteur der zweiten blauen Liederbuch-Affäre).
Die Eigenständigkeit des Parlaments beginnt bei der Funktion des Nationalratspräsidenten bzw. der Präsidentin, zieht sich durch die Ausschussvorsitzenden und geht bis in die letzten Abgeordnetenreihen. Wenn ein Nationalratspräsident, wie aktuell Wolfgang Sobotka, immer wieder durch parteistrategisches Verhalten auffällt (Beispiel 1: Zuordnung von Anträgen zu nicht adäquaten Ausschüssen: der „12h-Arbeitstag und 60h/Woche“-Antrag wurde dem Wirtschaftsausschuss zugewiesen, obwohl das Thema Arbeitszeit immer schon im Sozialausschuss vorberaten wurde, Beispiel 2: parteitaktische Sitzungsterminplanung) wird die institutionelle Eigenständigkeit schwer strapaziert. Auch andere Beispiele gibt es: eine erste Nationalratspräsidentin wie es Elisabeth Köstinger war, die ihre Rolle 2017 nur als 14-tägigen Durchgangsposten begriff, oder ein aktueller dritter Nationalratspräsident, wie Nobert Hofer, der gleichzeitig auch Parteichef ist, machen es sehr schwer, an die Eigenständigkeit der Funktion zu glauben.
Die Eigenständigkeit der Abgeordneten könnte durch sachliche parlamentarische Arbeit, also der Wahrnehmung ihrer Kontrollrechte wie kritische Anfragen, Anträgen, Initiierung von dringlichen Anfragen und Debatten eingelöst werden. Gefragt wäre ein Agieren statt eines Reagierens im Mehrheitsmodus. Dies setzt voraus, dass inhaltliche Expertise besteht, Überzeugungsarbeit im und außerhalb der Fraktionen geleistet wird, politisches und mediales Timing funktioniert, und auch die Fähigkeit dies alles rhetorisch in Reden zu packen. Die Rhetorik ist de facto das Kerngeschäft der ParlamentarierInnen. Die Debatten sollen kommunikativ ansprechend sein, Standpunkte und Argumente verdeutlichen und auch im Wechselspiel mit der gesamtgesellschaftlichen Willensbildung stehen.
Eigenständigkeit kann aber auch in einem heterogenen Abstimmungsverhalten der Klubs sichtbar werden. Das eigentliche parlamentarische Phantom – der Klubzwang –, welches durch die verfassungsgesetzliche freie Mandatsausübung genug Gegenwehr hätte, wird durch das freiwillige kluborientierte Abstimmungsverhalten und dem medialen Narrativ des „Streits“ so erst real und wirkungsvoll. Die Angst und Sorge abzuweichen ist zudem auch real, das Risiko von QuerdenkerInnen und AbweichlerInnen, bei der nächsten Parlamentswahl einen wählbaren Listenplatz zu ergattern, wird mit jeder fraktionseigenen Gegenstimme größer. Ein Wahlrecht, dass Wahllisten nicht zur „Chefsache“ macht, würde dieses Risiko entschärfen (Ausnahme bilden die Grünen: hier kommen die Listenplätze durch Abstimmungen der Mitglieder zustande).
Es braucht mehr Expertise
Die Beschäftigung mit Gesetzesmaterien ist wie eine harte Nuss, die nur mit viel Erfahrung, Arbeitsteilung und inhaltlicher Expertise zu knacken ist. Gerade neue Abgeordnete von kleineren (Oppositions-)Klubs haben es dabei schwer. Um diese Wissens- und Machtasymmetrie zu verkleinern, stehen jedem Abgeordneten seit Anfang der 1990iger Jahre zweckgebundene Mittel für parlamentarische MitarbeiterInnen zur Verfügung (1992 wurde das Parlamentsmitarbeitergesetz beschlossen). Im Vergleich zu Deutschland sind diese Mittel in Österreich aber viermal so gering. Parlamentarische MitarbeiterInnen bereiten Debatten inhaltlich vor, entwerfen bis verfassen im Ghostwriterstil Gesetzesanträge und unterstützen in der Medienarbeit. Auch eigene parlamentarische Dienste, wie der Budgetdienst sind als hauseigene ExpertInnen, die zur Rate gezogen werden können, sehr hilfreich. Ein Legistikdienst würde das Unterstützungsangebot in der Ausschussarbeit zusätzlich verbessern und auch die Abhängigkeit von LegistikerInnen in den Ministerien (die die meisten Gesetze mittels Regierungsvorlagen ausarbeiten) reduzieren.
Es braucht mehr Zeit
Über die letzten Jahrzehnte ist nachweisbar, dass sich das parlamentarische Tempo beschleunigt hat. Wo vor einigen Jahrzehnten Themen in Unterausschüssen solange debattiert wurden bis Konsens in den zentralsten Punkten herrschte, ist heute genau das Gegenteil zu beobachten. Gesetze werden oft mittels Abänderungsanträgen erst in der zweiten Lesung (das ist die Hauptdebatte im Parlament) so grundlegend geändert, dass die vorangegangene Vorberatung im Ausschuss zur Farce degradiert wird.
Zudem ist die Sitzungskultur in den nicht-öffentlichen Ausschüssen als auch Plenarsitzungen nicht gerade konzentrations- und qualitätsförderlich. 30 Tagesordnungspunkte (in denen es also um 30 Gesetzesinitiativen geht) gehören in weniger als drei Stunden durchdiskutiert. Das hat zur Folge, dass die Vorberatung zu einem zusammenhangslosen Statement-Medley verkommt, das Ping-Pong-artig hin und herspringt. Plenartage finden einmal in Monat jeweils meistens zwei Tage fast durchgehend statt. Diese zwei vollgestopften Tage auf drei oder vier Plenartage zu entzerren wäre ein Schritt in Richtung mehr Zeit, Sachlichkeit und Vereinbarkeit. Denn die tagelangen Marathonsitzungen bis um Mitternacht sind als Sinnbild für die arbeitseifrigen ParlamentarierInnen ungeeignet. In anderen Ländern kommt das Parlament viel öfter zusammen, auch gibt es die Trennung zwischen Ausschuss-Wochen und Plenartagen nicht wie in Österreich. Voraussetzung wäre die Anwesenheitspflicht (welche gesetzlich besteht) zu lockern, damit Fachausschüsse zeitlich auch parallel stattfinden könnten. Ein zeitgemäßes Arbeitsparlament, welches öfter tagt dafür aber in kürzeren Sitzungen, ist eine Frage der Kultur, und weniger der Geschäftsordnung. Dies würde auch häufigere und regelmäßigere Ausschusstermine umfassen. Oftmals ist die Terminsetzung ebenso wie die Festlegung der Tagesordnungspunkte vom Good Will der Regierungsfraktionen abhängig.
Es braucht mehr Ergebnisoffenheit und Öffentlichkeit
Die sogenannte Tribünenfunktion wird nur einmal in Monat an zwei vollgestopften Plenartagen real (Informationen zur politischen Bildung, S. 21). Die nicht-öffentlichen Ausschüsse tragen ebenso nicht dazu bei, dass Parlament und seine Debatten näher an die BürgerInnen zu bringen. Die vereinzelt stattfindenden öffentlichen Teile von Ausschüssen, wie Experten-Hearings oder die Behandlung von Berichten (die im Ausschuss enderledigt werden) sind meist von der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt und können so gar nicht genutzt werden.
Zudem kommt noch ein Killer für mögliches Interesse: Debatten, in denen vorher schon feststeht, dass sich nichts am Ergebnis ändert, verlieren an Spannung. Um die Grundanordnung der Positionen zu erkennen und herauszuhören, braucht es in der Regel ein bis zwei Reden der Pro bzw. Contraseite. Danach ist es eine wiederholte Aneinanderreihung, die erfahrungsgemäß wenig Neues in die Debatte bringt. Hier wären Abgeordnete mehr gefordert, den internen Weg der Abwägung der Argumente, der verschiedenen Interessen und Standpunkte in ihren Reden nachzuzeichnen.
Auch hält sich die Überraschung bei den Fragestunden an die FachministerInnen in Grenzen, wenn die Fragen der Abgeordneten der Regierungsfraktionen vorab „genehmigt“ und die Frage an sich mehr ins politische Werbefernsehen passen würde.
Apropos Fernsehen. Die Fernsehübertragung stellt zwar genuin die Öffentlichkeit her, aber wenn niemand zusieht, dann reicht dies nicht. Hier ist die Parlamentskorrespondenz positiv hervorzuheben, die alle Plenardebatten als auch Ausschüsse schriftlich zusammenfasst. Letztlich braucht es eine Stärkung der Berichterstattung, der Moderation von verschiedenen Standpunkten, die im Parlament vorgetragen werden. Beispielsweise ein „Hohes Haus“ zu jedem Plenartag. Darauf könnte dann die Analyse und Diskussion aufbauen. Bei der Qualität der Berichterstattung über das direkte Geschehen im Parlament ist noch viel Luft nach oben. Auch sind innenpolitische JournalistInnen keine wirklichen Debatten-Fans: die Medienlogik überrult die politische Logik. Dabei wäre es ihre Aufgabe die Prozesshaftigkeit der Debatten zu analysieren und zu beschreiben. Das würde die prinzipielle Ergebnisoffenheit parlamentarischer Debatten und dadurch auch neue Aspekte von Demokratie sichtbar machen. Im Idealfall würde dies gleichzeitig mehr öffentliches Interesse für das parlamentarische Geschehen erzeugen.
So ganz im Sinne des Croquis: dieser Text ist nun erschöpft, danke an die LeserInnen vor den Bildschirmgeräten.
Hier noch einige Anträge der letzten GP, die sich mit den Spielregeln, also der Geschäftsordnung des Nationalrats, beschäftigten. Leider wurde keiner der Anträge der Oppositionsparteien im Geschäftsordnungsausschuss in der letzten Gesetzgebungsperiode behandelt.