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Bild einer Armutsgrenze
(c) Armutskonferenz

Der neue Stil: Das Existenzminimum in der Sozialhilfe wird abgeschafft

Warum die „Sozialhilfe neu“ unmenschlich und erniedrigend ist… und sehr wahrscheinlich verfassungs- und europarechtswidrig.

Bis 2020, so hat sich Österreich in der EU verpflichtet, soll die Zahl der armuts- oder ausgrenzungsgefährdeten Menschen im Land auf 1,46 Millionen Menschen gesenkt werden (2017 waren es 1,56 Mio.). Das wird wohl eher nicht klappen: Das neue Sozialhilfe-Grundsatzgesetz , das demnächst beschlossen werden soll, sieht erhebliche Verschlechterungen für so gut wie alle Menschen in Notlagen vor. Und sollte, wie die Bundesregierung angekündigt hat, die Notstandshilfe der Arbeitslosenversicherung zu Beginn des nächsten Jahres abgeschafft werden, wird die Zahl der armutsgefährdeten Menschen stark ansteigen.

Das Ausmaß der Einschnitte für Menschen in der zukünftigen Sozialhilfe haben wir auf reflektive.at schon dargestellt. Aber was steht eigentlich noch alles drin, in diesem Gesetz? Und – frei nach Gütinand dem Fertigen angesichts der Revolution von 1848: Dürfens denn des überhaupt?

Was ist wirklich neu an der Sozialhilfe neu?

  • Der Name „bedarfsorientierte Mindestsicherung“ wird durch „Sozialhilfe“ ersetzt. Das ist mehr als bloße Semantik: Mit dieser Umbenennung möchte die Bundesregierung den Verfassungsgerichtshof austricksen und einer Aufhebung entgehen.

  • Das Ziel der Sozialhilfe ist nicht mehr „verstärkte Bekämpfung und Vermeidung von Armut und sozialer Ausschließung“, sondern soll „zur Unterstützung des allgemeinen Lebensunterhalts und Befriedigung des Wohnbedarfs … beitragen“ (§ 1 Z 1). Auch mit dieser Änderung will die Bundesregierung einer Aufhebung durch den VfGH zuvorkommen.

  • Völlig neu ist ein Verbot, SozialhilfebezieherInnen über die im Sozialhilfe-Grundsatzgesetz genannten Beträge hinaus Leistungen zukommen zu lassen, die „gänzlich oder teilweise, direkt oder indirekt der Unterstützung des allgemeinen Lebensunterhalts oder der Wohnversorgung dienen“ (Erläuterungen zu § 3 Abs. 1). So sollen Verbesserungen durch die Bundesländern, die Armut besser bekämpfen wollen, verhindert werden.

  • Zukünftig gelten keine Mindeststandards zur existenziellen Absicherung von Menschen in Notlagen, sondern Höchstsatze, die auch unterschritten, nicht aber überschritten werden können (§ 5 Abs. 2, 3 und 4).

  • Da zukünftig keine zusätzlichen Leistungen für SozialhilfebezieherInnen mehr möglich sein sollen, die tatsächlichen Richtsatzleistungen aber nicht ausreichen, um Wohnraum, Heizung und Energie zu bezahlen, sieht das Gesetz einen quasi „freiwilligen“ Zwang zu Sachleistungen vor: Wer sich die Wohnung mit der Sozialhilfe nicht leisten kann, kann gegen eine 40%-Kürzung des Bezugs eine „Sachleistung“ bekommen (§5 Abs. 5). Heißt: Entweder werden die Wohnkosten vom Sozialamt bezahlt oder es wird eine Wohnstelle zugewiesen (die Formulierung lässt beide Optionen offen). Das ist faktisch eine unbegründete Besachwalterung.

  • Die Kürzung der Sozialhilfe um 35% für arbeitsfähige Menschen mit schlechten Deutschkenntnissen (§5 Abs. 6). Die gekürzten Mittel sind als „Ersatzleistung“ für Kurse aufzuwenden (§5 Abs. 9). Von der Kürzung können auch Menschen betroffen sein, die ausreichende Sprachkenntnisse haben, aber „deren Vermittelbarkeit am österreichischen Arbeitsmarkt aus … in der Person des Bezugsberechtigten gelegenen Gründen … eingeschränkt ist“ (§5 Abs. 9). Sie erhalten „geeignete berufsqualifizierende Sachleistungen“ zur „Überwindung der eingeschränkten Vermittelbarkeit“. Das kann also auch Menschen mit hervorragenden Sprachkenntnissen treffen.

Wie die Bundesregierung den Verfassungsgerichtshof austricksen will

Wiederholt hat der Verfassungsgerichtshof in der Vergangenheit Teile von Mindestsicherungsgesetzen aufgehoben, weil sie unsachlich waren: „Ist in einem vom Gesetzgeber eingerichteten System der Sicherung zur Gewährung eines zu einem menschenwürdigen Leben erforderlichen Mindeststandards der Zweck, dem betroffenen Personenkreis das Existenzminimum zu gewähren, nicht mehr gewährleistet, dann verfehlt ein solches Sicherungssystem offensichtlich insoweit seine Aufgabenstellung“, formulierte er etwa bei der Aufhebung eines Teils des Kärntner Mindestsicherungsgesetzes im Jahr 2012 (und wiederholte dies 2018 im Falle Niederösterreich). Da die zukünftige Sozialhilfe nur Höchstgrenzen kennt, die auch noch mehrfach reduziert werden können, wird es zahlreiche Fälle geben, in denen „der Zweck, dem betroffenen Personenkreis das Existenzminimum zu gewähren, nicht mehr gewährleistet“ sein wird. In der Hoffnung, eine Aufhebung so zu vermeiden, dient das Gesetz zukünftig nicht mehr der „ Bekämpfung und Vermeidung von Armut und sozialer Ausschließung“, sondern nur mehr der „Unterstützung des allgemeinen Lebensunterhalts und Befriedigung des Wohnbedarfs“. In Zukunft soll es reichen, zur allgemeinen Lebensführung beizutragen. Heißt: Menschen haben keinen Anspruch auf ein Existenzminimum. Und weil es eben nur mehr um einen „Beitrag“ geht und nicht mehr um eine „Mindestsicherung, darf das auch nicht mehr Mindestsicherung heißen. Damit, so meint die Bundesregierung, könnten Beschwerden von Betroffenen beim VfGH abgewehrt werden.

Ob die Hoffnung der Regierung zu Recht besteht, sei dahingestellt. In der Praxis verschiebt sie das Problem nur zu den Ländern, die das Gesetz einzuhalten haben: In deren Mindestsicherungsgesetzen steht durchwegs fast wortident die Phrase „zielt auf verstärkte Bekämpfung und Vermeidung von Armut und sozialer Ausschließung“. Die Länder sind somit gezwungen, entweder die Zielsetzungen ihrer Gesetze zu verändern und damit eine sozialpolitisch von der Mehrheit der Bundesländer nicht gewünschte Verelendung in Kauf zu nehmen, oder zu riskieren, von betroffenen Menschen erfolgreich geklagt zu werden. Dieser Zwang übersteigt mit hoher Wahrscheinlichkeit die verfassungsrechtlichen Befugnisse, die dem Bund zukommen (siehe dazu Art. 12 B-VG).Wegweiser zur Ortschaft Elend

Warum das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz die Rechte der Länder beschneidet

Art. 12 des Bundesverfassungsgesetzes sieht vor, dass der Bund in Bezug auf „Armenwesen“ für die Grundsatzgesetzgebung, die Länder für die Ausführungsgesetze und den Vollzug verantwortlich sind. In Grundsatzgesetzen kann der Bund recht allgemeine Bestimmungen vorgeben, die einzuhalten sind. Das kann jedoch nicht so weit gehen, dass den Ländern nur ganz genau eine einzige Umsetzungsform verbleibt, sie also keinen Gestaltungsspielraum haben. Doch genau das sieht das neue Sozialhilfe-Grundsatzgesetz vor.

Diesen verfassungsrechtlich gesetzten Rahmen überschreitet das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz der Bundesregierung wahrscheinlich deutlich, wenn es einerseits (in § 5) sehr niedrige Höchstgrenzen der zukünftigen Sozialhilfe festlegt und gleichzeitig den Ländern verbietet, Menschen in Notlagen weitere Leistungen zukommen zu lassen, die „gänzlich oder teilweise, direkt oder indirekt der Unterstützung des allgemeinen Lebensunterhalts oder der Wohnversorgung dienen“ (Erläuterungen zu § 3 Abs. 1).

Aber auch zumindest zwei weitere Bestimmungen des Gesetzesentwurfs sind wahrscheinlich viel zu eng für ein „Grundsatzgesetz“: Die Verpflichtung, Menschen mit geringen Deutschkenntnissen die Leistung um 35% zu kürzen (§5 Abs.6) sowie der faktische Zwang, Wohnkosten im Regelfall als Sachleistungen auszubezahlen (§§ 3 Abs. 5 und 5 Abs. 5). Beide Regelungen zwingen die Länder zu unsachlichen Regelungen und zu erheblichen Mehrkosten in der Verwaltung. Die Gewährung als Sachleistung ist nämlich regelmäßig teurer, als die Auszahlung eines Geldbetrags (weshalb etwa auch fast alle deutschen Bundesländer außer Bayern den im deutschen Asylwerberleistungsgesetz vorgesehenen „Sachleistungsvorrang“ ignorieren).

Und noch etwas zum Sachleistungszwang: Die obligatorische Verwaltung der eigenen Mittel durch SachwalterInnen wurde für Menschen mit kognitiven Einschränkungen (also etwa dementen Menschen oder Menschen mit Lernschwierigkeiten) massiv eingeschränkt, weil es der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung widerspricht, Menschen ohne sachliche Begründung die Verfügung über ihr Geld zu entziehen. Genau das aber passiert nun mit zukünftigen Sozialhilfe-BezieherInnen, ohne dass es dafür eine sachliche Berechtigung gäbe. Es ist ja nicht so, dass diese Menschen intellektuell nicht in der Lage sind, mit Geld umzugehen. Sie haben nur einfach nicht genug davon. Das kann jedoch in einem demokratischen Rechtsstaat, der auf Menschenrechten basiert, keine rechtskonforme Begründung einer Teilentmündigung sein.

Warum das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz wahrscheinlich europarechtswidrig ist

Ganz besonders heftige Einschnitte sieht das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz für Menschen mit geringen Deutschkenntnissen vor. Wer nicht zumindest Kenntnisse im Ausmaß von B1 des europäischen Sprachreferenzrahmens erreicht, erhält um 35% niedrigere Leistungen. „Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in dem Mitgliedstaat, der diesen Schutz gewährt hat, die notwendige Sozialhilfe wie Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats erhalten“, heißt es in § 29 der EU-Status-Richtlinie. Wenn Menschen mit geringen Deutschkenntnissen jedoch eine um 35% niedrigere Leistung erhalten, so werden sie offenkundig nicht „wie Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats“ behandelt.

Auch da möchte die Bundesregierung den Gerichten ein Haxl stellen, indem sie den Differenzbetrag verpflichtend für Deutschkurse aufgewendet wissen will. Helfen wird das nicht: Der EuGH urteilt regelmäßig, dass staatliche Regelungen nicht so beschaffen sein können, dass eine faktische Ungleichbehandlung von StaatsbürgerInnen und anderen Menschen mit Aufenthaltsrecht die zwangsläufige Folge ist. Deutschkurse kann ein Mensch nämlich nicht essen und vor Regen und Kälte schützen sie auch nicht.

Sind die Kürzungen im Sozialhilfe Grundsatzgesetz verfassungswidrig?

Die Richtsätze“ (der Mindestsicherung) „bewirken eine “Außerstreitstellung eines bestimmten Mindestbedarfs” … und indizierten aufgrund der Stellung der Sozialhilfe im gesamten Sozialsystem (vgl. etwa demgegenüber die Ausgleichszulagenrichtsätze im Bereich der gesetzlichen Pensionsversicherung in den §§292 ff. ASVG und das pfändungsfreie Einkommen im Sinne des §291a EO) gleichzeitig das unterste sozialrechtliche Existenzminimum“, hat der Verfassungsgerichtshof wiederholt festgestellt. Der Clou dabei: Die Ausgleichszulage und das pfändungsfreie Existenzminimum sind gleich hoch, die Mindestsicherung entspricht dem monatlichen Nettobetrag der Ausgleichszulage (die allerdings im Unterschied zur Mindestsicherung vierzehn Mal pro Jahr ausbezahlt wird). Der Verfassungsgerichtshof hat damit mehrfach anerkannt, dass es einen Mindestbedarf gibt, der abgedeckt sein sollte; zumindest wenn das Ziel eines Gesetzes die Existenzsicherung ist. Und er hat festgestellt, dass sich dieser Betrag an der Ausgleichszulage der PensionistInnen orientiert.

Genau aus diesem Grund hat die Bundesregierung den Namen der Regelung ja auf „Sozialhilfe-Grundsatzgesetz“ geändert und die Gesetzesziele verändert.

Ob ihr das vor dem VfGH etwas helfen wird, kann nicht seriös prognostiziert werden. Anders als in Deutschland kennt die österreichische Bundesverfassung kein „Sozialstaatsprinzip“. Der Staat hat also keine rechtliche Verpflichtung, sich um Menschen in Notlagen zu kümmern. Das Versprechen eines Wohlfahrtsstaats, der sich für Menschen in Notlagen einsetzt, wird eben einfach nicht mehr eingelöst.

Doch so einfach durchschummeln geht auch nicht: Irgendwann kommt ein Punkt, an dem Sozialhilfesysteme auch gegen internationale Verträge verstoßen. Etwa gegen das Übereinkommen über den Schutz aller Personen vor Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe. Ihr Artikel 16 verpflichtet die UnterzeichnerInnen – darunter Österreich – „in jedem seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Gebiet Handlungen zu verhindern, die eine grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe darstellen, ohne der Folter im Sinne des Artikels 1 gleichzukommen, wenn diese Handlungen von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes … begangen werden.“

Ganz sicher ist es unmenschlich und erniedrigend, wenn die Bundesregierung Menschen, die keine reale Möglichkeit haben, ihre Lebenssituation zu verbessern, über einen andauernden oder zumindest ungewissen Zeitraum hinweg zu niedrige Mittel zur Existenzsicherung zugesteht. Das betrifft jedenfalls Kinder, Menschen im Pensionsalter und Menschen mit geringen Deutschkenntnissen. Früher oder später wird sich der VfGH daher die Frage stellen müssen, wo tatsächlich die Untergrenze der Existenzsicherung in Österreich liegt.

Wird die Frage im Rahmen einer Beschwerde gestellt, so werden einige Referenzwerte und Statistiken zu beachten sein, darunter etwa die Armutsgefährdungsschwelle, der Ausgleichszulagenrichtsatz für PensionistInnen, die Konsumerhebung der Statistik Austria oder die Regelbedarfssätze zur Berechnung des Unterhaltsanspruchs von Kindern. Und der Verfassungsgerichtshof wird eine Antwort auf die Tatsache zu finden haben, ob es sachlich gerechtfertigt ist, dass die Sozialhilfe keinem einzigen dieser Werte auch nur nahe kommt (siehe Tabellen eins und zwei). Die Sozialhilfe neu liegt zwischen 28 und 34% unter der Armutsgefährdungsschwelle. Die Sozialhilfe für Menschen mit schlechten Deutschkenntnissen liegt bei weniger als 50% der Armutsgefährdungsschwelle. Ihr Betrag reicht nicht einmal aus, um jenen Wert zu erreichen, den das unterste Einkommenszehntel allein für Wohnen, Heizung, Lebensmittel, Kleidung und Körperpflege aufwenden muss.

Da müsste ein Gericht erstmal eine gute Erklärung finden, warum das nicht grausam, unmenschlich oder erniedrigend sein soll.

Vergleich Existenzminima in Österreich und Sozialhilfe

 

Tabelle 1: Alle Werte sind Nettowerte. Ausgleichszulage und pfändungsfreies Existenzminimum unter Berücksichtigung von Sonderzahlungen.

 

 

 

 

 

 

Vergleich Regelbedarfssätze und Sozialhilfe für Kinder

 

 

Tabelle 2: Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag sind nicht berücksichtigt, weil sie sowohl zur Sozialhilfe wie auch zu den Regelbedarfssätzen hinzukommen.

 

 

 

 

 

 

Siehe auch folgende Beiträge der reflektive zum Thema Mindestsicherung und Sozialhilfe neu:

Mindestsicherung: Wenn das allerletzte soziale Netz mutwillig zerissen wird

Gegen den Sand in den Augen – das sagen unsere Abgeordneten zur neuen Sozialhilfe

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Lukas Wurz

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