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Warum Schwarz-Blau die Unfallversicherung zerschlagen will

Ein Überblick in 5 ½ Punkten

Ein gebrochenes Bein kann nur einmal geheilt werden. Warum gibt es aber dann zwei Versicherungen, nämlich eine Krankenversicherung und eine Unfallversicherung? Nun: Die Unfallversicherung schützt nicht die ArbeitnehmerInnen, sondern die ArbeitgeberInnen vor Klagen und Schadensersatzansprüchen der Beschäftigten. Also: Warum gibt es die Unfallversicherung? Was tut die Unfallversicherung? Wie viel kostet sie? Und warum will die Regierung sie in ihrer derzeitigen Form auflösen?

1. Warum will die Regierung die Unfallversicherung auflösen?

Eine Begründung für die im Regierungsprogramm in den Raum gestellte und am 4.April von der Sozialministerin faktisch angekündigte Auflösung der Unfallversicherung gibt es nicht. Der Unfallversicherung ( genauer gesagt: der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt AUVA) wurde auf Seite 115 des Regierungsprogramms die Aufgabe gestellt, 500 Millionen Euro einzusparen. Das ist 35% ihres jährlichen Budgets. Machbar ist das selbstverständlich nicht, ohne wesentliche Aufgaben und Leistungen der Unfallversicherung aufzugeben. Der gesamte Verwaltungsaufwand der Unfallversicherung liegt bei 92 Millionen Euro, also bei weniger als einem Fünftel der einzusparenden Geldmenge.

Der Plan, die Unfallversicherung aufzulösen, liegt wohl im Wunsch der schwarz-blauen Regierung begründet, Kosten für Unternehmen zu senken. So verspricht die Regierung etwa, den Beitrag zur Unfallversicherung von 1,3% der Bruttolöhne auf 0,8% zu verringern. Um diese Kostenreduktion zu erreichen, müssten neben den Verwaltungskosten zum Beispiel die Kosten für die berufliche Rehabilitation (also die berufliche Ausbildung für Menschen, die nach Unfällen oder Berufskrankheiten ihren Beruf nicht mehr ausüben können), die medizinische Rehabilitation von Unfallopfern und die Kosten für die Unfallkrankenhäuser eingespart werden.

Das ist aber weder sinnvoll noch wünschenswert. Möglicherweise zielt die Bundesregierung aber auch darauf ab, bestimmte Kosten einfach anderen Sozialversicherungsträgern und Institutionen umzuhängen: So könnten etwa die Länder die Unfallkrankenhäuser übernehmen und das AMS oder die Pensionsversicherung die berufliche bzw. die medizinische Rehabilitation. Das könnte die Bundesregierung dann zwar als „Lohnnebenkostensenkung“ verkaufen, stellt aber nichts anderes als eine Verlagerung von Kosten – entweder zu Lasten der SteuerzahlerInnen oder der kranken Menschen – dar. Aber dazu am Ende dieses Artikels…

2. Warum gibt es überhaupt eine eigene Unfallversicherung?

Bergwerke zählen schon seit Jahrtausenden zu den gefährlichsten aller Arbeitsorte. Seit dem 15. Jahrhundert sind Bergwerksunglücke mit mehreren hundert Toten in Österreich belegt. Für die Eigentümer der Bergwerke wurde das aber erst nach 1812 ein richtiges Problem: Mit der Geltung des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs konnten Opfer und Nachkommen von Bergwerkskatastrophen Entschädigungen vor Gericht einfordern, wenn etwa Fahrlässigkeit des Bergwerksbetreibers nachgewiesen wurde. Und das konnte logischerweise häufig nachgewiesen werden. Die Ansprüche gegen Unternehmen und DienstgeberInnen nach Arbeitsunfällen gingen regelmäßig in Höhen, die kleine und mittlere Betrieb die Existenz kosten konnten. Mit dem Berggesetz 1854 wurde eine besondere Unfallversicherung für Bergleute geschaffen. Sie deckte die Kosten der medizinischen Behandlung von Opfern nach Bergwerksunfällen ab, bot aber auch Entschädigung wie etwa Schmerzensgeld oder für Einkommensausfall. In der Folge wurden weitere Berufsgruppen, deren Arbeitsbereiche als besonders gefährlich galten, in diese Versicherung einbezogen: ArbeiterInnen in Sprengmittelfabriken etwa, oder solche an Hochöfen. Seit 1926 gibt es für alle Beschäftigten eine obligatorische Unfallversicherung. Von der Unfallversicherung umfasst sind nicht nur eigentliche Arbeitsunfälle, sondern auch Berufserkrankungen und Wegunfälle. Seit 1974 erfasst die Unfallversicherung außerdem auch SchülerInnen und StudentInnen, seit Einführung des verpflichtenden Kindergartenjahres auch Kinder im letzten Kindergartenjahr.

Die Kosten (1,3% des Bruttolohns) tragen die DienstgeberInnen: Sie sind es ja auch, die von hohen Entschädigungen, Schmerzensgeldzahlungen oder Krankenhausrechnungen entlastet werden. Die Unfallversicherung stellt also eine kollektive Risikoreduktion für ArbeitgeberInnen dar, deren Mittel durch Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten geschädigte ArbeitnehmerInnen zu Gute kommen.

3. Was sind die besonderen Aufgaben der Unfallversicherung?

Der gesetzliche Auftrag der Unfallversicherung unterscheidet sich von jenem der Krankenversicherung in einem wesentlichen Punkt. Die Krankenversicherung hat die Aufgabe, die „Gesundheit und Arbeitsfähigkeit … nach Möglichkeit“ wiederherzustellen. Zu diesem Zweck hat eine Krankenbehandlung „ ausreichend und zweckmäßig“ zu sein, „ darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten“ (§ 133 Abs. 2 ASVG).

Nach Arbeitsunfällen oder einer Berufserkrankung, bei denen einen Dienstgeber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine Verantwortung trifft, reicht das nicht aus, um die Ansprüche der Unfallopfer abzugelten. Sollen alle Ansprüche gegenüber einem möglicherweise fahrlässigen Dienstgeber von der Versicherung abgegolten werden, so muss eine Behandlung „alle geeigneten Mittel“ umfassen, die der Wiederherstellung der Gesundheit und der Arbeitsfähigkeit dienen (§ 189 ASVG).

Etwas vereinfacht dargestellt: Wer einen Freizeitunfall hat und sich das Bein bricht, erhält eine medizinische Versorgung auf Kosten der Krankenversicherung, damit das Bein auch wieder gut verheilt. Die Krankenversicherung ist aber etwa nicht verpflichtet, alle medizinischen Mittel und Rehabilitationsmöglichkeiten einzusetzen, damit das Bein nach der Heilung jedenfalls wieder genau so belastbar und einsetzbar ist, wie vor dem Unfall (auch wenn es in der Praxis eine Rehabilitation nach Freizeitunfällen ohne Rechtsanspruch gibt). Und da die Entschädigung eines möglicherweise fahrlässig durch Vernachlässigung der Aufsicht oder der Fürsorgepflicht entstandenen gesundheitlichen Schadens durch einen Arbeitgeber eben nicht nur die Heilung im engeren Sinne umfasst, gibt es auch noch weitere Leistungen der Unfallversicherung. Hat ein Unfall etwa eine dauerhafte Einschränkung der Erwerbsfähigkeit zur Folge, so deckt eine Unfallrente diesen dauerhaften Einkommensausfall (im Ausmaß der Einschränkung) ebenso ab, wie z.B. das einem Menschen nach einem von einem anderen verschuldeten Unfall zustehende Schmerzensgeld. Sollte ein Mensch nach einem Unfall (oder einer Berufserkrankung) gar nicht mehr in der Lage sein, diesen Beruf auszuüben, so hat er oder sie z.B. einen Anspruch auf eine sogenannte berufliche Rehabilitation: auf eine neue Berufsausbildung (und damit verbunden auf eine existenzielle Absicherung während der Ausbildung): FriseurInnen, die nach Jahren der Arbeit in ihrem Beruf Allergien auf bestimmte Chemikalien bekommen; Elektriker, die eine Metallallergie entwickeln… Sie alle (und noch viele mehr) können in ihrem Berufsfeld nicht mehr arbeiten und brauchen eine neue Ausbildung. Dafür kommt die Unfallversicherung in ihrem breiten Auftragsmandat auf.

Neben ihrer historischen Aufgabe, der Abdeckung von Ansprüchen der Beschäftigten gegen DienstgeberInnen, also der Unfallheilbehandlung, der Rehabilitation und der Entschädigung der Unfallopfer (bzw. der Erkrankten) hat die Unfallversicherung auch noch ein paar zusätzliche gesetzliche Aufgaben: Etwa die Forschung im arbeitsmedizinischen Bereich, die Vorsorge, die Beratung von Unternehmen zur Erhöhung der Arbeitssicherheit sowie die Information der Öffentlichkeit zu Unfallgefahren, aber auch die Spezialisierung auf Unfallmedizin (Traumatologie), die Erhaltung von spezialisierten Unfallkrankenhäusern und die Rehabilitation nach Unfällen.

4. Wie viele Menschen brauchen etwas von der Unfallversicherung?

Im Jahr 2016 waren in der AUVA knapp 3 Millionen ArbeitnehmerInnen, 525.000 Selbständige und etwa 1,5 Millionen Kindergartenkinder, SchülerInnen und Studierende versichert. Im selben Jahr verzeichnete die Unfallversicherung 160.000 Schadensfälle. Betroffen waren 6% aller ArbeiterInnen, 1,5% aller Angestellten, 1% aller Selbständigen und knapp 4% aller SchülerInnen, Studierenden und Kindergartenkinder. Um das plastisch darzustellen: Die statistische Wahrscheinlichkeit eines Arbeiters oder einer Arbeiterin, im Verlauf von 40 Arbeitsjahren einen Arbeitsunfall zu haben, liegt nur knapp unter eins (nämlich bei 91,58%. Dank an den aufmerksamen reflektive-Leser Volker Plass , der unsere erste Angabe kritisch geprüft und korrigiert hat) . So viel zur Bedeutung der Unfallversicherung.

5. Was kostet die Unfallversicherung?

Das Budget der Unfallversicherung liegt bei etwas über 1,4 Milliarden Euro im Jahr. Mehr als 97% dieses Budgets stammt aus Beitragseinnahmen. Etwa 36% der Mittel werden für Unfallrenten bzw. Hinterbliebenenrenten aufgewandt, 31% für die Unfallheilbehandlung und 6% für Rehabilitation. Etwas über 7% werden für Berufsausbildungen und andere Ansprüche nach Arbeitsunfällen oder Berufserkrankungen ausgegeben. Dazu kommen Mittel etwa für Körperersatzstücke nach Unfällen (7%). Und 6,5% (das sind 92 Millionen. Euro) werden für die Verwaltung benötigt. Das ist im Vergleich zu anderen Sozialversicherungssparten hoch: Der Verwaltungsaufwand der Krankenversicherung liegt bei 2,7%, jener der Pensionsversicherung bei 1,4%. Eine Erklärung für den vergleichsweise hohen Verwaltungsaufwand liegt im aufwändigen Rechnungskreislauf, in Aufgaben wie etwa der Forschung, der Beratung und der öffentlichkeitswirksamen Aufklärungskampagnen, die andere Versicherungsträger nicht durchführen müssen, vor allem aber in der Existenz der Unfallspitäler, die einen eigenen Verwaltungsaufwand verursachen, den andere Träger nicht haben. Der hohe Verwaltungsaufwand ist daher erklärbar und nicht auf eine unverhältnismäßige Verwaltung zurückzuführen.

5 ½. Und zurück zum Warum…?

Selbstverständlich kann auch in der Unfallversicherung einiges besser gemacht werden: Sie ist bisweilen sehr restriktiv in der Anerkennung von Berufskrankheiten und Unfällen und wurde in der Vergangenheit häufig zur Finanzierung von politischen Aufträgen missbraucht, für die sie nicht geschaffen wurde (etwa zur Finanzierung des Krankengelds für Selbständige, den Zuschuss zur Entgeltfortzahlung für Betriebe bis 50 MitarbeiterInnen oder der Lehrlingsausbildung). Dazu kommen eher absurde bürokratische Probleme: Nicht immer ist nach Arbeitsunfällen eine Unfallkrankenhaus in der Nähe. Viele Unfallopfer nach Arbeitsunfällen landen daher in den Unfallstationen anderer Krankenhäuser. Gleichzeitig landen jedoch auch Menschen nach Freizeitunfällen in Unfallkrankenhäusern (was ja aus PatientInnensicht nicht so verkehrt ist: die sind auf Unfälle spezialisiert). Problem dabei: Die Verrechnung dieser Kosten erfolgt auf Basis von Regelungen aus dem letzten Jahrtausend, und zwar stets zu Lasten der Unfallversicherung. An sich ein recht leicht zu lösendes Problem, das aber die Bundesländer als Erhalter der öffentlichen Spitäler etwas kosten würde (weshalb es nicht passiert).

Im internationalen Vergleich (und auch im Vergleich zu privaten Unfallversicherungen) schneidet die Unfallversicherung aber hervorragend ab: die österreichischen Unfallkrankenhäuser gelten auf Grund der Spezialisierung als Weltspitze, und eine Verpflichtung etwa zur beruflichen und sozialen Rehabilitation nach Unfällen und Erkrankungen kennen nur noch acht andere Länder.

Kurz: Es wäre ziemlich unverantwortlich, dieses System in Stücke zu teilen und anderen Institutionen zuzuschlagen. Und noch unverantwortlicher wäre es, die Leistungen und/oder ihre Qualität zu verringern, um Geld einzusparen.

Ganz besonders absurd wäre es, die Unfallversicherung völlig einzustellen und Unternehmen wieder das volle Kostenrisiko nach Unfällen tragen zu lassen. Da geht es nicht nur um Kosten für die Unternehmen, sondern auch um Zeit, die etwa mit Gerichtsverfahren verbracht werden muss, ehe es Entschädigungen gibt. Aber nur die Kosten der Unternehmen zu reduzieren und gleichzeitig das Versorgungsniveau der geschädigten ArbeitnehmerInnen zu senken, das wäre gesellschafts/gesundheitspolitisch ein Schritt um mehr als 100 Jahre zurück.

Die angekündigte Zerschlagung der Unfallversicherung hat auch noch einen machtpolitischen Aspekt: Mit dem Umbau des gesamten Sozialversicherungsbereichs versucht die Bundesregierung, die Kontrolle über die Sozialversicherung zu übernehmen, die gegenwärtig „selbstverwaltet“ ist, also von VertreterInnen der Kammern organisiert wird. Die Zerschlagung der AUVA ist quasi ein Versuchsballon, der – entweder unter Verlagerung der Kosten auf andere oder Einschränkung der Leistungen – als „Senkung der Lohnnebenkosten“ verkauft werden kann. Klappt das, sind auch schon andere, viel weitreichendere Eingriffe in dieSozialversicherung angekündigt.

Die Bundesregierung hat sich in dieses Schlammassel bewusst hineinmanövriert, in dem sie nur mehr verlieren kann: Es ist denkunmöglich, die Kosten der Unfallversicherung um ein Drittel zu reduzieren, ohne Leistungen zu verschlechtern. Eine Umschichtung der Aufgaben mag zwar Unternehmen ein wenig „entlasten“, verlagert aber die Kosten auf andere öffentliche Einrichtungen. Und diese Kosten müssen in den neuen Einrichtungen dann scheibchenweise entweder eingespart oder zu Lasten anderer Aufgaben dieser Institutionen finanziert werden. Gleichzeitig gilt die Ankündigung aber als Kernelement des Regierungsprogramms. Es wird schwer sein, da unbeschädigt wieder herauszukommen.

Beschädigt werden aber in jedem Fall die PatientInnen.

Erklärlich ist die Absicht der Bundesregierung, die Unfallversicherung zu zerschlagen, nur in ideologischer Hinsicht: Sie kann als Senkung der Abgabenquote dargestellt werden. In der Realität kann sie es aber nicht sein, weil entweder andere Einrichtungen die Kosten (und allenfalls Steuermittel statt Beiträge) dafür einsetzen müssen, oder aber – und das wäre die schlimmste Option – die sozialen und gesundheitlichen Folgekosten ein Mehrfaches der angeblichen Kostensenkung ausmachen.

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Lukas Wurz

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