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Sozialversicherung: Regierungspläne können die Gesundheit gefährden

Auch wenn es kaum wer weiß und im Alltag leider nicht zu merken ist: Die Sozialversicherung bietet besondere Möglichkeiten der politischen Teilhabe und eine ausgeprägte Schutzfunktion gegen Regierungseingriffe. „Selbstverwaltung“ heißt das Zauberwort. Und genau diese Selbstverwaltung will die schwarz-blaue Regierung unter ihre Kontrolle bringen. Das gefährdet unser aller Gesundheit.

Wer sich über die die hohe Zahl an Kranken-, Pensions- oder Unfallversicherungsträger in Österreich, über die bürokratische Absurdität der Mehrfachversicherung oder über Arztkostenbeiträge, ungleiche Leistungskataloge oder kleiner werdende Medikamentenpackungen ärgert, darf sich wundern: Er oder Sie ist EigentümerIn der Institution, die den Ärger auslöst. Und das ist nicht nur rein philosophisch gemeint. Die Träger der Sozialversicherung werden von den Versicherten laut Gesetz selbst verwaltet.

Richtig zu merken ist das im Umgang mit der Sozialversicherung allerdings nicht: Zu oft tritt sie Versicherten im Alltag als Institution mit Kommandogehabe gegenüber, statt als Menschen, die im Prinzip ihre Vorgesetzten sind. Die FunktionärInnen der Selbstverwaltungskörper werden zudem von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt über die Wahlen zu den Arbeiterkammern, Wirtschaftskammern oder Landwirtschaftskammern bestimmt.
Die Rechte der Versicherten im Rahmen dieser Selbstverwaltung sind zwar kaum bekannt aber nicht gering: Sie können etwa Anträge an die Generalversammlung stellen und in Geschäftsunterlagen Einsicht nehmen.

Regierung und Parlament haben in der Sozialversicherung hingegen nur sehr wenig zu melden: Gesetze können geändert werden und bestimmte Ministerien können beobachtende VertreterInnen zu den Sitzungen der Leitungsgremien entsenden, bei offenkundiger Rechtswidrigkeit auch Einspruch gegen deren Beschlüsse erheben (was de facto nie der Fall ist), aber direkten Zugriff auf die Versicherungsträger selbst gibt es nicht: Nur die Versicherungen selbst legen (im Rahmen des Gesetzes) fest, wofür Geld verwendet wird und wofür nicht, an welchen Standorten Einrichtungen errichtet werden sollen und wie interne Abläufe organisiert werden. Seit einigen Jahren ist diese „Selbstverwaltung“ auch verfassungsrechtlich abgesichert (Art. 120a bis c B-VG).

Selbstverwaltung: Schutz gegen Regierungseingriffe

Das ist auch gut so, denn in den allermeisten Ländern, in denen der Staat (also in der Regel die Regierung) direkt auf Sozialsysteme zugreifen kann, wurden diese seit den 1980ern massiv verschlechtert: Nirgendwo liegt so viel Geld, wie im Sozialsystem, wusste etwa auch Margaret Thatcher, und holte sich dieses Geld aus dem staatlichen Gesundheitssystem NHS, das sich bis heute nicht davon erholen konnte. Kein Zufall ist es also, dass steuerfinanzierte Systeme unter staatlicher Kontrolle – wie etwa Obamacare und fast alle Sozialsysteme in den USA – erheblichen Angriffen ausgesetzt sind. Kostensenkungen im Sozial- und Gesundheitsbereich machen sehr schnell große Budgetmittel für andere Pläne frei. Die Folgen für die Menschen sind oftmals erst nach Jahren spürbar.
Die österreichische Sozialversicherung verwaltete im Jahr 2016 etwas mehr als 60 Milliarden Euro, also gute 17% oder ein Sechstel des BIPs.

2000 reloaded: Die politische Umfärbung der Sozialversicherung

Aus Sicht einer Regierung sind soziale Sicherungssysteme in Selbstverwaltung der Versicherten quasi dem Zugriff entzogen und damit ein Störfaktor: Als eine der ersten Maßnahmen färbte etwa Schwarz-blau I im Jahr 2000 den Dachverband der Sozialversicherungsträger (den Hauptverband) um und zwang die Träger, zusätzliche Kosten zu übernehmen (und so das Bundesbudget zu entlasten): Auf Kosten der Krankenversicherungen wurden den Ländern etwa pauschal ein Teil der Beitragseinnahmen zuerkannt, auf deren Verwendung die Träger keinen Einfluss haben, ein Fonds für Privatspitäler wurde geschaffen, zusätzliche Leistungen (wie etwa die Rezeptgebührenobergrenze) ohne ausreichende staatliche Refundierung wurden verlangt und schließlich auch eine Ambulanzgebühr geschaffen. All diese und noch mehr Maßnahmen reduzierten die Mittel der Krankenversicherungen und und zwangen insbesondere die Gebietskrankenkassen, sich erheblich zu verschulden.

Selbstverwaltung wehrt sich

Die Selbstverwaltung wehrte sich: sie initiierte etwa eine Klage gegen die Ambulanzgebühr, die in der Folge auch vom VfGH aufgehoben wurde; und sie drohte – mit zahlreichen Gutachten vorbereitet – mit einer Klage beim Verfassungsgerichtshof. Erfolgreich: Einige der schwarz-blauen Kostenüberwälzungen auf die Krankenkassen wurden von VfGH aufgehoben, andere nach 2006 einfach wieder abgeschafft. Und ab 2009 gab es zusätzliche Budgetmittel zur Entschuldung der Krankenkassen.

Schwarz-Blau: Machtfrage statt Versicherteninteressen

Wenn Schwarz-Blau nunmehr die Struktur der Sozialversicherungsträger verändern will, steht nicht die Lösung der Probleme von Versicherten, sondern die Schaffung für die Regierung kontrollierbarer Institutionen im Vordergrund. Recht deutlich wird dies an der Frage, wie viele Sozialversicherungsträger es zukünftig geben soll.

Statt derzeit – je nachdem, ob die Einrichtungen für Landes- und Gemeindebedienstete mitgezählt werden oder nicht – 21 oder 47 Träger sollen es zukünftig höchstens fünf sein. Oder vielleicht auch 31, denn das Regierungsprogramm schwindelt sich gekonnt darüber hinweg, ob die Krankenfürsorgeanstalten und Pensionsämter der Landes- und GemeindebeamtInnen in die neue Struktur einbezogen werden sollen.
Die kolportierte und nicht wirklich näher ausgeführte Zahl von „höchstens fünf“ macht jedoch deutlich, dass es bei der angekündigten Neuordnung der Sozialversicherungsträger ausschließlich um Macht und Kontrollmöglichkeiten, nicht aber um die Lösung von Problemen der Versicherten geht. Schon seit 2000 verfolgt die Wirtschaftskammer den Plan, die Zahl der Versicherungen auf eine Krankenkasse für ArbeitnehmerInnen, eine für öffentlich Bedienstete des Bundes sowie eine für Selbständige (einschließlich BäuerInnen) zu reduzieren. Gemeinsam mit der Pensionsversicherungsanstalt und der Unfallversicherungsanstalt wären das also fünf (wobei die Existenz der Unfallversicherungsanstalt im Regierungsprogramm in Frage gestellt wird).

Hausmacht für die ÖVP

Insbesondere für die ÖVP bedeutete eine derartige Struktur einen erheblichen Machtgewinn, denn die Sozialversicherungsanstalt der Gewerblichen Wirtschaft, jene der Bauern und sowie die Kranken- und Unfallversicherung der öffentlich Bediensteten sind unter vollständiger Kontrolle von ÖVP-nahen Organisationen wie der Wirtschaftskammer oder der Beamtengewerkschaft. Das bedeutet etwa Verfügungsmittel und weitgehend freie Jobvergabe innerhalb dieser Institutionen. Diesen unter faktischem ÖVP-Einfluss stehenden Trägern stehen derzeit im Hauptverband der Sozialversicherungsträger eine deutliche Mehrheit von Krankenkassen gegenüber, die von der SPÖ-nahen GewerkschafterInnen geführt werden. Die im Regierungsprogramm vorgesehene neue Struktur der Sozialversicherung schafft der schwarzblauen Regierung somit eine fixe und fast unveränderbare Mehrheit unter den Trägern von zumindest 3:2. Demokratisch legitimiert ist diese Mehrheit nicht, denn in ihr sind Selbständige und BeamtInnen weitaus überrepräsentiert.

Kein Vorteil für die Versicherten

Und obwohl die im Regierungsprogramm beschriebene Neustrukturierung mit Verbesserungen für die Versicherten begründet wird, haben die ganz genau gar nichts von der neuen Struktur: Es ist nämlich insbesondere die Sozialversicherungsanstalt der Gewerblichen Wirtschaft, von der die meisten bürokratischen wie ökonomischen Probleme verursacht werden. Für fast 90% der bei mehreren unterschiedlichen Trägern versicherten Menschen würde sich etwa nur etwas verbessern, wenn gerade die SVA der gewerblichen Wirtschaft mit den Gebietskrankenkassen zusammengelegt würde. Und auch das absurde Phänomen, dass ein erheblicher Teil der Mehrfachversicherten zwar Beiträge in die SVA der Gewerblichen Wirtschaft zahlen, aber dort keine Leistungen beanspruchen, wird mit der von der Regierung angestrebten Struktur nicht gelöst. Die Leistungen der SVA sind nämlich rein theoretisch bisweilen besser als jene der Gebietskrankenkasse, aber allein schon auf Grund der geringeren Zahl der VertragsärztInnen schwerer in Anspruch zu nehmen und kosten die Versicherten überdies noch einen zusätzlichen Behandlungsbeitrag. Wer somit bei der GKK und der SVA versichert ist, nimmt regelmäßig Leistungen der GKK in Anspruch. Die SVA erhält gleichzeitig Geld für Leistungen, die sie nicht erbringt, das aber den Gebietskrankenkassen fehlt.

Regierungszugriff auf Beiträge und Organe

Und es gibt noch zwei weitere Vorhaben der Regierung, mit der sie die Selbstverwaltung auszuhöhlen beabsichtigt: sehr praktisch übernimmt die Regierung Kontrolle über die Sozialversicherung, wenn sie die Beitragseinnahmen zukünftig über die Finanzämter erledigen lässt. Es ist dann die Regierung (in Form des Finanzministers), die entscheidet, wer wofür welches Geld erhält. Derzeit sind dies die Sozialversicherungsträger selbst. Mit nicht unerheblichen Nebenwirkungen: Damit wird auch das System der Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping faktisch ausgehebelt. Und schließlich will die Regierung eigene stimmberechtigte VertreterInnen in die Organe der Selbstverwaltung entsenden.

Die Regierungspläne können Ihre Gesundheit gefährden

Auch wenn es Schwarz-Blau mit ihren einigermaßen skurrilen Plänen zur Umgestaltung der Sozialversicherung in erster Linie um Macht, Kontrolle und Durchgriffsrechte geht, so haben diese direkte Auswirkungen auf die Versicherten selbst. Widerstand gegen das finanzielle Ausbluten der Krankenkassen wie in den Jahren 2000 bis 2006 ist von einer mehrheitlich von der ÖVP und RegierungsvertreterInnen kontrollierten Sozialversicherung nicht zu erwarten. Neue Mehrheitsverhältnisse haben etwa unmittelbare Auswirkungen auf die Frage, wer die Kosten einer Klage gegen Regierungsbeschlüsse oder Gesetze vor dem Verfassungsgerichtshof zu tragen hat. Die Verschiebung der Beitragseinnahmen zur Finanz verspricht nicht allein organsatorisches Chaos und fehlende Kontrolle, sondern auch politische Einflussnahme auf die Mittelverteilung in der Gesundheitsversorgung. Folgen derselben sind auch bereits angekündigt: So sollen etwa die Packungsgrößen bei Medikamenten reduziert werden, was erhebliche Zusatzkosten für chronisch kranke Menschen zur Folge hat. Bereits Schwarz-Blau 1 hat den Gebietskrankenkassen quasi verboten, Leistungen über das gesetzliche Minimum hinaus anzubieten.

Negativbeispiel Deutschland

Mittelfristig drohen jedoch weit größere Probleme: Das Nebeneinander von Gebietskrankenkassen (die nach Wunsch von Schwarz-blau zukünftig zusammengefasst werden sollen) und SVA wirft regelmäßig die Frage der Abgrenzung von Selbständigkeit und Unselbständigkeit auf. Damit verbunden sind Fragen der Finanzierung des Sozialsystems (Selbständige zahlen etwa um fast 20% niedrigere Pensionsbeiträge als Unselbständige), aber auch der sozialen Absicherung der oder des einzelnen. In einer Gesellschaft, in der Menschen zunehmend häufig Berufsfelder, aber auch die Erwerbsformen wechseln (müssen), ist das Modell der berufsgruppenspezifischen Versicherung überholt. Der öffentlichen Debatte folgend hat sich die Regierung auch die Abschaffung der Mehrfachversicherung ins Programm geschrieben. In der Praxis gibt es aber nur wenige Möglichkeiten, diese auch tatsächlich umzusetzen (insbesondere in der von der Regierung angekündigten Struktur): Die Wirtschaftskammer fordert bereits seit Jahren eine freie Wahl des Versicherungsträgers. Das geht aber nicht ohne „negative Versichertenauslese“: schlecht verdienende Menschen verbleiben im billigsten Versicherungssystem, die GutverdienerInnen wechseln in andere Systeme. Wie ein grundsätzlich funktionierendes Gesundheitssystem auf diese Weise kaputtgemacht werden kann, zeigt derzeit Deutschland vor. Neben unterschiedlichen Behandlungsstandards müssen Versicherte nun auch ein System der Zusatzbeiträge und Selbstbehalte akzeptieren. Die Folge: Die privat von Haushalten zu tragenden Gesundheitskosten steigen stark an, die Versorgungsqualität sinkt. Nicht zufällig liegt Deutschland bei internationalen Qualitäts-Rankings nur auf Platz 20 (Österreich 14).

Infobox: Wie viele Sozialversicherungsträger gibt es eigentlich?

21 Versicherungsträger sind Mitglied im Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger, dem Dachverband der Sozialversicherung. Neben den weitaus bekanntesten Trägern wie der Pensionsversicherungsanstalt (knapp 3 Millionen Versicherte) und den neun Gebietskrankenkassen (knapp 5,4 Millionen Versicherte) oder der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA) finden sich darunter etwa auch fünf Betriebskrankenkassen (ca. 37.000 Versicherte), die Versicherungsanstalt des Notariats (1027 Versicherte) oder die Sozialversicherungsanstalt der Gewerblichen Wirtschaft (567.000 in der Krankenversicherung) sowie jene der Bauern (279.000 in der Krankenversicherung). Jede dieser Einrichtungen hat eine Geschichte, eine Entwicklung … und Probleme.

Etwa bei der Sozialversicherungsanstalt der Bauern. Die Zahl der aktiven Versicherten in der Krankenversicherung geht seit 2000 um etwa ein Prozent pro Jahr zurück. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Einrichtung, die zwangsläufig an Versicherten verlieren muss, weil es immer weniger Bauern – und seit einigen Jahren auch BäuerInnen gibt – ist ein Dauerbrenner. Das Problem mit der abnehmenden Zahl an Berufsgruppenangehörigen wurde bei der Krankenversicherung der BeamtInnen im Sinne der ÖVP elegant gelöst: der Versicherung wurden die Vertragsbediensteten zugeschlagen, die dort eigentlich gar nichts verloren haben. Die Rechnung bezahlen einerseits die betroffenen Vertragsbediensteten, die anders als in der Gebietskrankenkasse einen Behandlungskostenbeitrag zahlen müssen, sowie die Versicherten in den Gebietskrankenkassen, die um eine vergleichsweise gut verdienende Gruppe an BeitragszahlerInnen gebracht wurden.

Nicht alle Sozialversicherungsträger machen dasselbe: Die Pensionsversicherungsanstalt etwa ist nur für Pensionen zuständig, die AUVA nur für Berufsunfälle und Berufserkrankungen oder die Gebietskrankenkasse nur für die Krankenversicherung. Die SVA der Gewerblichen Wirtschaft ist für Kranken- und Pensionsversicherung zuständig, nicht jedoch für die Unfallversicherung. Die BeamtInnenversicherung ist für Unfall- und Krankenversicherung, nicht aber für die Ruhensbezüge der BeamtInnen zuständig.

In der Praxis ist das sowieso alles ein ziemlicher Humbug: Tatsächlich erfüllt die Pensionsversicherungsanstalt über ein eigens entwickeltes Programm so gut wie alle Funktionen im Pensionssystem und die GKKs erledigen so ziemlich jede Funktion in der Krankenversicherung.
Unvollständig wäre diese Auflistung ohne Verweis auf die sechzehn sogenannten Krankenfürsorgeanstalten der Landes- und Gemeindebediensteten (KFA) und die zehn Pensionsämter für BeamtInnen (wobei das Bundespensionsamt in der Beamtenversicherung untergebracht, aber weiter ein eigenes Amt ist).
Alles in allem geht es um 47 Einrichtungen, von denen 34 in der Krankenversicherung tätig sind, 15 in der Pensionsversicherung und 20 in der Unfallversicherung.

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Lukas Wurz

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