Weil Unternehmen weniger Sozialbeiträge zahlen sollen, fallen Finanzierungströme im Sozialsystem wie Dominosteine.
Mit dem Beschluss eines „Reformpakets“ durch den Vorstand der AUVA sieht die Bundesregierung alle KritikerInnen entlarvt und die Debatte um die Unfallversicherung als erledigt an: Die AUVA bleibt weiter bestehen. Die Unfallkrankenhäuser werden zwar ausgegliedert, aber nicht geschlossen. Und die Regierung kann die Sozialbeiträge der Unternehmen wie angekündigt senken.
Doch das „Konzept“ der Regierung und der Beschluss der AUVA sind nicht das Ende der monatelangen Debatte um die Unfallversicherung, sondern der Beginn eines umfassenden Konflikts um die Finanzierung des Gesundheitssystems, der weniger politisch, als vielmehr vor Gerichten ausgetragen werden könnte. Es geht um die Frage, wer die Kosten für jene Leistungen übernimmt, die die AUVA abgeben soll. Und daran knüpfen sich ganze Ketten von weiteren Finanz-Dominosteinen, die aneinandergereiht – und von einander abhängig – zu fallen drohen. Entsprechende Fronten tun sich überall auf: Krankenversicherungsträger, Bund, Länder, ArbeitgeberInnen, der Familienlastenausgleichsfonds und das AMS geraten miteinander in Konflikt. Und es geht dabei um weit mehr Geld, als die 300 Millionen pro Jahr, die irgendwem aufs Auge gedrückt werden müssen.
Die Scheinreform der AUVA
Im „Konzeptpapier“ der Sozialministerin zur Neugestaltung der AUVA, das sie am 13. August in einer Pressekonferenz vorstellte, steht sehr wenig drin. Auf acht Seiten finden sich nur 13 Zeilen zu konkrete Änderungen bei der AUVA: Landesstellen heißen zukünftig Regionalbüros, zusätzlich zur AUVA entsteht eine ausgegliederte GmbH der Unfallspitäler und AUVA-Rehabzentren, die Bundeszentrale der AUVA wird räumlich mit der Wiener Landesstelle zusammengelegt, die AUVA soll mehr mit den Ländern kooperieren, und 300 AUVA-MitarbeiterInnen werden abgebaut. Auf diese Weise können, meint die Ministerin, im Jahr 2019 an die 100 Millionen Euro eingespart werden, die in eine Beitragssenkung für Unternehmen fließen sollen. Der von den Unternehmen entrichtete Unfallversicherungsbeitrag (siehe dazu hier) wird von 1,3 auf 1,2 Prozent abgesenkt. Weitere Einsparungen im Ausmaß von 328 Mio. Euro sollen in den nächsten Jahren folgen, und dann abermals die Dienstgeberbeiträge gesenkt werden.
Beginn eines grausigen Verteilungskampfs
Der zentrale Stehsatz in Zusammenhang mit der AUVA heißt „Entlastung von versicherungsfremden Aufgaben“. Das ist zuallererst einmal ein Satz ohne klare Bedeutung. Tatsächlich hat die Unfallversicherung Aufgaben umgehängt bekommen, die nicht sehr viel mit Unfallversicherung zu tun haben.
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Dazu zählt etwa der Ersatz der Kosten für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Betriebe mit bis zu 50 MitarbeiterInnen. Dafür muss die AUVA jährlich etwa 110 Millionen. Euro aufwenden. Diese Aufgabe wurde ihr von der schwarz-blauen Regierung im Jahr 2005 umgehängt und war Folge einer „Lohnnebenkostensenkung“ der Regierung Schüssel 1, die im Jahr 2000 quasi über Nacht den Entgeltfortzahlungsfonds abgeschafft hat. Nachdem insbesondere kleine Unternehmen dadurch in sehr schwierige finanzielle Lagen kamen, wurde 2005 eine neue Entgeltfortzahlung auf Kosten der Unfallversicherung geschaffen (mit der formalen Begründung, dass die ja eh auch von Beiträgen der Unternehmen finanziert wird).
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Als versicherungsfremde Aufgabe gilt auch der Kostenbeitrag der AUVA zur Behandlung von AUVA-Fällen in Nicht-AUVA-Krankenhäusern. Da zahlt die AUVA aufgrund der regelmäßigen Fortschreibung einer Regelung aus dem Jahr 1977 (§ 319a ASVG) um 156 Mio. im Jahr mehr an die Krankenkassen, als die Behandlung an Kosten verursacht.
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Und als versicherungsfremd gilt – wie es scheint – auch eine eigentliche Kernaufgabe der AUVA: 29 Mio. jährlich sollen eingespart werden, indem die arbeitsmedizinische und sicherheitstechnische Beratung der AUVA für kleine Unternehmen („AUVA sicher“) nicht mehr finanziert wird.
Damit sind die 300 Millionen für das Regierungsgeschenk an die Unternehmen schon einmal erreicht. Und wäre die AUVA, was sie in der Vergangenheit wiederholt angedroht hatte, gegen die Verpflichtung zur Entgeltfortzahlung oder den Kostenbeitrag zu den Krankenversicherungen zum VfGH gezogen, wäre sie mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgreich gewesen: Quersubventionen zwischen beitragsgedeckten Systemen sind wahrscheinlich verfassungswidrig. Sie stellen eine Form von Enteignung der Versicherten dar und verstoßen gegen das Prinzip der Selbstverwaltung.
Doch mit ein paar gesetzlichen Federstrichen ist es nicht getan: „Kleine und mittlere Unternehmen werden weiterhin – in vollem Umfang – die Ersatzleistung erhalten“, steht dazu im „Reformpapier“ der Bundesministerin. Die 110 Millionen Euro für die Entgeltfortzahlung muss also auch dann irgendwer bezahlen, wenn es die AUVA nicht mehr tut. Würde es der Bund aus Steuermittel bezahlen, so hätte das die mehr als schiefe Optik eines Steuergeschenkes für Unternehmen auf Kosten der Bevölkerung. Sollten es etwa die Sozialversicherung der gewerblichen Wirtschaft oder gar die Krankenkassen der Unselbständigen aufs Auge gedrückt bekommen, ginge das zu Lasten von Leistungen für die Versicherten dieser Einrichtungen. Auch die Länder werden sich nicht widerstandslos Kosten aufhalsen lassen. Und da wäre dann noch der Kostenbeitrag der AUVA für die Krankenversicherungsträger, der – egal ob zu recht oder zu unrecht bezahlt – jedenfalls von den Krankenkassen gebraucht wird, um die Leistungen für die Versicherten zu bezahlen.
Und jetzt wird‘s haarig.
Versicherungsfremde Aufgaben überall
Denn auch die Krankenkassen tragen erhebliche Kosten für Dinge, die nichts mit Krankenversicherung zu tun haben, aber politisch gewollte Zusatzleistungen sind. Und auch diese sind mit hoher Wahrscheinlichkeit verfassungswidrig.
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So trägt die Krankenversicherung 30 Prozent des Wochengeldes, also des Einkommensersatzes für schwangere Frauen, obwohl Schwangerschaft jedenfalls keine Krankheit ist. Die Krankenversicherung subventioniert damit den Familienlastenausgleichsfonds mit 150 Millionen Euro im Jahr.
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Die Kosten für das Krankengeld arbeitsloser Menschen wird ab dem 56. Krankheitstag vom AMS nicht ersetzt. Da subventioniert die Krankenversicherung das AMS-Budget mit zumindest 90 Mio. im Jahr.
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Unvollständig ersetzt werden der Krankenversicherung auch die Kosten der von der Regierung Schüssel 2 eingeführten Rezeptgebührenobergrenze (die als klassische Sozialleistung eigentlich vom Bund getragen werden müsste). Macht etwa 42 Millionen Euro pro Jahr.
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Von der Krankenversicherung subventioniert werden aber auch die Unternehmen in Österreich: 15% der Beschäftigten, erhob die Statistik Austria 2014, leiden unter arbeitsbedingten Gesundheitsstörungen. Eine wifo-Studie aus dem Jahr 2008 errechnete damals Gesundheitskosten aus arbeitsbedingten Erkrankungen (also Behandlungskosten, Heilmittel, etc.) in der Höhe von 5,47 Milliarden Euro (wobei Arbeitsunfälle und tatsächlich anerkannte Berufserkrankungen, die von der AUVA anerkannt sind, mitgerechnet sind). Diese Gesundheitskosten sind den Unternehmen zuzurechnen und entstehen entweder aus Missachtung des ArbeitnehmerInnenschutzes oder wegen schlechter, krankmachender Arbeitsbedingungen. Zwar gibt es im ASVG die Möglichkeit, Kosten bei VerursacherInnen einzuklagen, doch bisher erfolgt dies fast nur bei Autounfällen mit Opfern, deren Behandlungskosten von der Krankenversicherung eingeklagt werden. Bei arbeitsbezogenen Erkrankungen passiert das jedoch nicht, weil es einerseits verwaltungsaufwendig und andererseits der Stimmung in sozialpartnerschaftlich organisierten Einrichtungen wie den Sozialversicherungsträgern wenig zuträglich ist: Die Wirtschaftskammer wäre wenig erfreut, wenn die Krankenversicherung plötzlich Verursacherbetriebe klagen würde. Selbst zehn Prozent der vom wifo 2008 errechneten Summe wären über 500 Millionen Euro, die der Krankenversicherung jährlich verloren gehen. Und damit relativiert sich wieder die zu hohe Zahlung der AUVA an die Krankenversicherung. Gibt es dieses Geld nicht, wird es sich die Krankenversicherung wohl von den Betrieben holen müssen.
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Interessant ist aber auch ein Finanzierungsstrom, über den nun plötzlich gar nicht mehr gesprochen wird: Auch die Krankenkassen überweisen der AUVA regelmäßig einen Betrag zur Abdeckung der Behandlung von Freizeitunfällen. Und dieser Betrag (nach § 149 Abs. 4 ASVG) von etwa 50 Millionen Euro pro Jahr deckt nicht die tatsächlichen Kosten der AUVA, die etwa um 120 Millionen Euro höher liegen. Doch die Krankenkassen zahlen diesen Betrag zu Unrecht. Sie zahlen ihn nämlich doppelt. Für die Versorgung in Krankenanstalten sind die jeweiligen Landeskrankenanstaltenfonds zuständig, die dafür jährlich gute fünf Milliarden Euro von den Krankenversicherungen erhalten (wer eine völlig unverständliche gesetzliche Regelungen sehen will, sollte sich § 447f ASVG ansehen). Und da Unfallspitäler nun einmal Krankenanstalten sind, müssten sie Geld aus den Landesfonds erhalten. Dagegen haben sich die Länder jedoch erfolgreich gewehrt. Quasi als Ausgleich hat der Gesetzgeber die Krankenkassen dann eben gleich noch einmal für etwas bezahlen lassen, das sie schon bezahlt haben. Und das erklärt, warum dieser Aspekt aus der öffentlichen Debatte plötzlich verschwunden ist: Da müssten nämlich die Länder bezahlen, und mit denen mag sich die Regierung eher nicht anlegen.
All diese Finanzierungsströme sind reichlichst absurd, aber über Jahrzehnte gewachsen und nicht einfach zu entwirren: Wenn die Regierung an einer Schraube dreht, bewegt sie automatisch viele andere auch. Die Versicherten dürfen sich dann aussuchen, ob sie eher das Bild vom Mikado-System oder von den fallenden Dominosteinen bevorzugen. Auf Grund der vielen unterschiedlichen Finanzierungsströme besonders verwundbar sind die Gebietskrankenkassen. Sie sichern die größte Zahl an Versicherten ab und haben die schwierigste Einnahmensituation.
Diese Spirale des fortgesetzten Verteilungskonflikts hat die Regierung in Gang gesetzt, um die Sozialbeiträge der Unternehmen zu reduzieren. Wie die Krankenversicherung zukünftig mit weniger Geld mehr Aufgaben erledigen soll, scheint dabei nicht im Mittelpunkt des Regierungsinteresses gestanden zu sein. Etwas Besseres für die Versicherten, wie die Regierung behauptet, kann so jedenfalls nicht herauskommen.
[…] die zwischen der Unfallversicherung AUVA und den Krankenkassen hin und her fließen (siehe dazu hier), bis 2022 etwa 70 Millionen Euro verlieren. Ab 2023 verliert sie pro Jahr knapp 144 Millionen […]