reflektive
mit dem brecheisen aushebeln

„Eine rein technische Adaptierung“: ÖVP/FPÖ hebeln den Rechtsstaat aus.

Die Regierung ermächtigt sich, die Verwaltung auf Grundlage nicht beschlossener Anträge im Nationalrat auszuüben.

Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden“, bestimmt Art. 18 Abs. 1 der österreichischen Bundesverfassung. Für den Bereich des Sozialversicherungsrechts gilt demnächst möglicherweise nicht mehr. Mit den Stimmen von ÖVP und FPÖ beschloss der Nationalrat am 22. November folgenden Gesetzestext: „Vorbereitungshandlungen, die im Hinblick auf erst in der Zukunft liegende Gesetzesänderungen im Bereich der Sozialversicherungsgesetze erforderlich sind, können bereits vor dem In-Kraft-Treten des jeweiligen Bundesgesetzes durchgeführt werden, wenn andernfalls eine fristgerechte Umsetzung nicht möglich wäre und der Gesetzesvorschlag bereits in parlamentarischer Behandlung steht.“

Was das heißt? Staatliche Verwaltung muss nicht mehr unbedingt auf Grundlage beschlossener Gesetze erfolgen. Es reicht bereits ein Gesetzesantrag, der in den Nationalrat eingebracht, aber nicht beschlossen wurde. Damit ist ein Grundpfeiler demokratischer Rechtsstaaten ausgehebelt: Das Legalitätsprinzip. Die Regierung hat nun eine Generalermächtigung, im Bereich der Sozialversicherung ohne gesetzliche Grundlage zu agieren. Das erinnert in fataler Weise an das sogenannte Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz 1917, das die Regierung Dollfuß im März 1933 dazu nutzte, um die Demokratie in Österreich abzuschaffen (näheres dazu siehe hier).

Der konstruierte Notstand…

Das Gesetz sei „eine rein technische Adaptierung“, meinte der FPÖ-Abgeordnete Neubauer bei der Antragseinbringung im Nationalrat. Und ÖVP-Klubobmann Wöginger erklärt den wahrscheinlichen Verfassungsbruch zur Notwehrmaßnahme der Bundesregierung: „Wir sind als Regierungsparteien regelrecht aufgefordert, zu solchen Mitteln zu greifen, weil wir verpflichten müssen, dass Daten eingemeldet werden. Wissen Sie, was die Realität ist? – Derzeit ersucht das Ministerium um Einmeldung der Daten im Zusammenhang mit der Sozialversicherungsreform und es gibt derzeit Sozialversicherungsträger, die sich weigern, diese Daten einzumelden. So weit sind wir in dieser Republik gekommen. Daher müssen wir diesen Abänderungsantrag einbringen damit es zur Einmeldung dieser Daten innerhalb von 14 Tagen kommt.“

Wöginger unterschlägt den ZuhörerInnen jedoch, dass es einen guten Grund gibt, warum Sozialversicherungsträger diese Daten nicht „einmelden“. Für das „Ersuchen“ des Sozialministeriums gibt es keine gesetzliche Grundlage. Die Sozialversicherungsträger sind keine Verwaltungseinrichtungen der Regierung, sondern Selbstverwaltungskörper. Sie dürfen nur jene Daten an die Regierung weiterzugeben, für die es auch eine gesetzliche Grundlage gibt.

Das Wögingersche Notwehrkonstrukt gefährdet Demokratie- und Rechtsstaat. Einerseits sieht gerade der von diesem Antrag ausgehebelte Artikel 18 der Bundesverfassung vor, was im Fall einer Ausnahmesituation zu passieren hat, und andererseits liegt selbstverständlich keine Ausnahmesituation vor. Ob die von der Regierung angestrebte politische Umfärbung der Sozialversicherung ein paar Monate früher oder später umgesetzt wird, ist aus staatsrechtlicher- und demokratiepolitischer Sicht irrelevant. Weder hat eine spätere Umsetzung wirtschaftlich negative Folgen noch ist die Demokratie oder die Weiterexistenz der Republik in Gefahr (die Gefahren für die Sozialversicherten durch das neue Gesetz, siehe reflektive Beitrag). Dennoch verschafft die Mehrheit der Nationalratsabgeordneten der Bundesregierung eine Generalermächtigung, ohne gesetzliche Grundlage zu regieren und am Sozialversicherungssystem nach ihrem Dafürhalten herumzudoktern.

mit Hintergedanken

Zudem gäbe es auch unproblematische Wege, zu den gewünschten Daten zu kommen: Die Sozialversicherung könnte per Gesetz zur Übermittlung der Daten verpflichtet werden. Auch das kann verfassungsrechtlich bedenklich sein, aber es hebelt kein Grundprinzip der Bundesverfassung aus. Einigermaßen erstaunlich ist, dass die Bundesregierung das offenkundig weiß und daher in den zweiten Satz des Gesetzes schreiben ließ: „Insbesondere haben die Versicherungsträger auf Verlangen der Aufsichtsbehörde innerhalb einer Frist von 14 Tagen dieser die Zahl der pflichtversicherten Dienstnehmer/innen zu einem bestimmten Stichtag in der von der Aufsichtsbehörde geforderten Form zur Verfügung zu stellen.“

Und damit wird es endgültig spooky: Der zweite Satz des Gesetzesantrags verdeutlicht, dass es nicht allein um die Frage einer Datenweitergabe geht, sondern auch um anderes. Sonst wäre der gesamte erste Satz, der pauschal alle „Vorbereitungshandlungen“ ohne gesetzliche Grundlage ermöglicht, nämlich unnötig. Und auch das Wort „insbesondere“ im zweiten Satz zeigt, dass es auch um andere geplante oder denkbare „Vorbereitungshandlungen“ gehen könnte. Die Parlamentsmehrheit der ÖVP- und FPÖ-Abgeordneten hebelt also wissentlich Artikel 18 der Bundesverfassung aus, um der Regierung auch zukünftig und in anderen Fällen die Möglichkeit zu verschaffen, ohne Gesetzesbeschluss „Vorbereitungshandlungen“ setzen zu können. Tatsächlich also handelt es sich bei der beschlossenen Regelung um ein „Ermächtigungsgesetz“: Die Regierung soll für noch unbekannte und rechtlich unbestimmte Fälle das Recht erhalten, ohne Rücksicht auf geltende Gesetze handeln zu können.

Verfassung biegen, bis sie bricht

Neben der Aushöhlung des Legalitätsprinzips gibt es noch zumindest drei weitere verfassungsrechtlich fragliche Aspekte in diesem Gesetz:

  • Es ist gar nicht klar, was genau unter dem Begriff „Vorbereitungshandlung“ zu verstehen ist. Als Begriff kommt es ausschließlich in Strafgesetzen vor. Und auch die Judikatur verwendet es fast ausschließlich in Verbindung mit dem Strafrecht.
  • Völlig unbestimmt ist auch, welche Gesetzesvorschläge Vorbereitungshandlungen auslösen können und wie weit Vorbereitungshandlungen gehen können. Da das Gesetz keinen Procedere vorsieht, könnte die Sozialministerin theoretisch – ohne irgendwen zu fragen – auch einen Oppositionsantrag dazu „nutzen“, willkürliche „Vorbereitungshandlungen“ zu setzen.
  • Das Gesetz gibt auch keinen Aufschluss darüber, wann eine „fristgerechte Umsetzung“ als „nicht möglich“ zu erachten ist. Das bietet die Möglichkeit, durch kurze Umsetzungsfristen in Gesetzen so ziemlich jede „Vorbereitungshandlung“ zu legitimieren. Konsequent zu Ende gedacht müsste sich eine Bundesregierung gar nicht mehr auf bestehende Gesetze beziehen, sofern nur ein Gesetzesantrag mit knappen Inkrafttretensfristen im Nationalrat liegt (und zwar unabhängig davon, ob der Antrag jemals beschlossen wird, oder nicht).Es überrascht daher auch nicht, dass so ziemlich alle VerfassungsrechtlerInnen die beschlossene Regelung für verfassungswidrig halten.

Und wie geht’s weiter?

So die am 22. November beschlossene Bestimmung je überhaupt in Kraft tritt, wird sie mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben werden. Zum einen, weil eine Bestimmung der Bundesverfassung nicht einfachgesetzlich (also ohne 2/3-Mehrheit) abgeändert werden kann, vor allem aber, weil eine Änderung der sogenannten Bauprinzipien der Bundesverfassung nur mit Volksabstimmung, im Falle von Demokratie, Rechtsstaat, liberalem Prinzip (also Menschenrechte) und Gewaltentrennung sehr wahrscheinlich gar nicht möglich ist (nach vorherrschender Rechtsmeinung). Bis dieses Gesetz jedoch aufgehoben wird, ist es als gültig anzusehen und kann von der Regierung missbraucht werden.

Vor einem Inkrafttreten muss es noch am 6. Dezember vom Bundesrat bestätigt und in der Folge von Bundespräsidenten geprüft und unterschrieben werden, ehe es verlautbart werden kann. Sollte dies alles passieren, so tritt es am Tag nach der Verlautbarung in Kraft. Alle Oppositionsparteien haben angekündigt, eine Überprüfung durch den VfGH zu unterstützen. Ebenso ist mit der Einleitung eines Prüfungsverfahrens durch die EU zu rechnen.

Wie lange derartige Verfahren dauern können, ist schwer abzuschätzen. Ein von Angeordneten initiiertes Prüfungsverfahren gegen das Budgetbegleitgesetz 2003 dauerte acht Monate. So lange oder vielleicht auch länger könnte die Bundesregierung Zeit haben, mit ungesetzlichen Eingriffen ins Sozialsystem die Substanz dieser Republik – und dazu zählen Pensionsversicherung, Krankenversicherung und Unfallversicherung nun einmal – einzugreifen und diese kaputt zu machen. Das wäre dann wirklich ein demokratiepolitischer Notstand.

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Lukas Wurz

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