In der Debatte haben meistens PolitikerInnen die Interpretationshoheit. Doch was sagt die Brexitology? Denn mittlerweile hat der Brexit als politik- und wirtschaftswissenschaftliches Live-Experiment eine eigene Forschungsrichtung hervorgebracht. Der Beitrag gibt einen Überblick zu den wirtschaftlichen Folgen und den Verhandlungen aus sozialwissenschaftlicher Sicht und zeigt, wo PolitikerInnen irren.
Status quo im Brexit-Krimi
Mit weniger als vier Monaten bis zum Stichtag steht es nicht gut um den Brexit-Fahrplan. Zwar konnten sich Regierung und EU auf zwei wichtige Dokumente einigen, doch außer Theresa May scheint niemand daran zu glauben, dass ihr Deal das Westminster-Votum am 11.12. überstehen wird. 12 MinisterInnen haben sie bereits verlassen, der nordirische Koalitionspartner DUP rebelliert, und aktuelle Umfragen zeigen eine 59%-Mehrheit für ein zweites Referendum und eine 54%-Mehrheit für den Verbleib in der Union. Je nach Härte der Ablehnung im Parlament könnte dies das Ende der konservativen Regierung bedeuten. Gleichzeitig ist der Streit um die Deutungshoheit der Brexit-Folgen heißer denn je.
In dieser Unsicherheit ist es sinnvoll, die wissenschaftliche Debatte zum Brexit, die „Brexitology“, zu befragen. Wie denken SozialwissenschaftlerInnen über das Phänomen in puncto wirtschaftliche Folgen und Verhandlungen? Was kann uns methodische Faktensuche über die Interpretationen der PolitikerInnen sagen? Scheiden sich die Geister auch hier?
Leavers: Europaablehnung trifft auf neoliberale Vorstellungen
Die Diplomatin Alyson Bailes beschreibt die britische Haltung in Bezug auf die europäische Integration als ablehnend und grundsätzlich nicht erstrebenswert.[1] Großbritannien sei eher ergebnisorientiert. Was keinen Mehrwert bietet, wird aussortiert. Industrie und Handel sind die größten Interessen der BritInnen an Europa. Es ist also wenig überraschend, dass sich auch die Debatte seit dem Referendum größtenteils darum dreht.
Leavers prognostizieren, dass sich wenig ändern wird, und wenn, dann nur zum Besseren. Britische Exporte gingen ohnehin größtenteils in den Rest der Welt und ein neues Freihandelsabkommen sei schnell geschlossen. Ein No-Deal-Brexit sei gemäß dieser Position no problem. Man könne einfach zu WTO-regelbasiertem Handel mit der EU übergehen und schnell neue Handelsverträge rund um den Erdball schließen.
Im Kontrast zu anderen politischen Wenden wie dem Trumpismus, welcher Freihandel an sich hinterfragt, kann der Brexit im ökonomischen Kontext nicht als Anti-Globalisierungsdiskurs gelesen werden. Tatsächlich ist die wirtschaftliche Vision der Leavers ein radikal freierer, globalerer Handel mit historischen Partnern wie den USA und Australien. Um den „Backstop“ in Nordirland zu verhindern, sei nur die Abschaffung aller Importzölle mit der Vision, Großbritannien in ein Powerhouse wie Hong Kong oder Singapur zu verwandeln, nötig. Der Tenor ist fast radikal neoliberal, anti-integrationistisch, aber nicht protektionistisch.
Remainers: Wirtschaftliche Einbußen und Abhängigkeit vom Kontinent
Die Prognose der Remainers fiel schon 2016 anders aus und je näher der 29. März 2019 rückt, desto kohärenter werden die Analysen der ÖkonomInnen, die weithin als die rationalsten SozialwissenschaftlerInnen bekannt sind. Regierungsprognosen veranschlagen ein um 2,7% niedrigeres BIP pro Kopf nach 15 Jahren mit dem aktuellen Deal und bis zu 8,1% ohne Deal-Szenario. Gleichzeitig disqualifizieren sie die Wirtschaftsvision der Leavers als unrentabel. Einsparungen durch Deregulierung würden das BIP pro Kopf nur um 0,1% ausgleichen. Dasselbe gelte für Freihandel mit den USA, Australien und den BRICS-Staaten.[2] Zudem ignorierten die Leavers, dass Freihandel mehr als nur Zölle berührt. Es gibt hunderte Regulierungen allein für Lebensmittelexporte, die neu verhandelt werden müssen. Zurückgewonnene Fischereirechte nützten den Briten nichts, wenn EU-Standards den Import nicht zuließen. Der reibungslose Warenverkehr sei ebenfalls wichtiger als angenommen. Sektoren wie die Autoindustrie, Supermärkte und Big Pharma sind auf ständigen Nachschub vom Kontinent angewiesen. Ohne einen Deal sind Engpässe in der grundlegenden Versorgung wahrscheinlich. In der britischen Autoindustrie allein wären eine Million Jobs bedroht.[3] Das Institue for Government und The UK in a Changing Europe, zwei unabhängige Think Tanks, bestätigen in aktuellen Berichten diese Prognosen als eher zu konservativ. Es könnte also noch schlimmer kommen.
Tausche Freizügigkeit gegen Zölle und Wirtschaftseinbußen
Es gibt kaum Zweifel, dass jegliche Form des Brexit signifikante wirtschaftliche Einbußen bedeuten muss. Allein die Härte des Aufpralls könne noch gedämpft werden. Minimale Einwände kommen etwa von Clarke, Goodwin und Whiteley, die lediglich argumentieren, dass die britische Wirtschaft auf kurze Sicht widerstandsfähiger wäre, als angenommen.[4] Nur wenige, hartgesottene Brexiteers, besonders Anhänger des erzkonservativen Abgeordneten Jacob Rees-Mogg diskreditieren die Prognosen als „Project Fear“ einer liberalen Elite, die bereits 2016 versucht haben soll, die Wählerschaft mit Horrorszenarien in der EU zu halten. Doch es finden sich keine seriösen ForscherInnen, die das unterschreiben würden.
Die überwältigende Mehrheit der Brexitologen ist überzeugt, dass die Verluste weder das Chaos eines No-Deal-Brexit, noch das „taxation without representation“-Arrangement nach dem aktuellen Deal wert sind. Unter Mays Deal würden die Briten noch mindestens 21 Monate lang in das EU-Budget einzahlen ohne in Brüssel mitreden zu dürfen. Sollte danach ein separates Freihandelsabkommen scheitern, würde dieser Zustand wahrscheinlich zur Norm werden, so wie etwa für Norwegen. Der renommierte Professor für Europastudien am King’s College, Anand Menon, kontextualisiert: Auch wenn sich unter AkademikerInnen kaum Unterstützer finden, ist es eine vollkommen legitime Position, dass es sich lohne, Freizügigkeit oder den EuGH für höhere Zölle und Regression abzulehnen. Die Entwicklung könnte sogar so langsam sein, dass sie an vielen KonsumentInnen vorbeiginge. Nur müsste die Gewissheit der Regression von den Brexiteers auch so kommuniziert werden.
Theresa Mays Fehler und friendly fire in den Verhandlungen
Die zweite wissenschaftliche Debatte dreht sich um die Verhandlungen selbst. Besonders vom rechten Flügel ihrer Partei wird May ununterbrochen für angeblich unzureichende Kompromisse angegriffen. Akademische KommentatorInnen sehen genau in dieser Kritik den Schwachpunkt der britischen Verhandlungsstrategie repräsentiert. Benjamin Martill und Uta Staiger vom Dahrendorf Forum, konstatieren, May habe sich mit ihren Versprechungen zeitig vergaloppiert und durch ihr voraussehbares Scheitern an hohen Hürden viel Unterstützung verspielt. Sie hätte das Narrativ von der Überlegenheit Großbritanniens nicht übernehmen sollen, um dem rechten Flügel zu imponieren, nur um ihn nun zu enttäuschen, wo das Erreichbare auf dem Tisch liegt. Dermot Hodson und John Peterson ergänzen, dass das Klima zwischen Leavers und Remainers in der Regierung viele Chancen ruiniert habe. Die eisige Beziehung zwischen May und dem ehemaligen Außenminister Johnson habe zu einer Marginalisierung des EU-erfahrenen Foreign Office zu Gunsten eines inkompetenten, neuen Brexit-Ministers geführt (David Davies verbrachte 2018 nur 4 Stunden in Brüssel).
Sogar Diplomaten wie James Richards, damals mitverantwortlich für die Übergabe von Hong Kong, und Sir Stephen Wall, ehemaliger UK-Botschafter bei der EU, stimmen in die wissenschaftliche Kritik mit ein. In einer Podiumsdiskussion an der London School of Economics bemerkte Richards, Großbritannien habe essentielle Vorbereitungen vor dem Auslösen von Artikel 50 vernachlässigt. Man hätte vorher klären müssen, was genau man erreichen will und wie stark der Rückhalt in Westminster ist. In einer ähnlichen Veranstaltung disqualifizierte Wall eine Parallele zu Margaret Thatchers Erfolg mit hard bargaining in den 1980ern. Sie habe ihr Ziel nach fünf Jahren (!) nur erreichen können, weil Brüssel Londons Zustimmung für größere Projekte benötigte. Im Fall Brexit kann No. 10 auf kein solches Druckmittel zurückgreifen.
Die BrexitologInnen und auch erfahrene Diplomaten sind sich einig. Die britische Regierung und ihr Verhandlungsteam haben viele Fehler gemacht, auch wenn die Chancen gegen eine übermächtige EU von Anfang an nicht optimal waren. Uneinigkeit herrscht nur darüber, was der folgenschwerste Fehler war.
Konsens und Solidarität innerhalb der Brexitology
Wieso sind sich die WissenschaftlerInnen so einig? Ist man womöglich voreingenommen? Den Sozialwissenschaften wird gerne ein „liberal bias“ unterstellt. In anderen Forschungsbereichen wird diese Kritik auch als teils berechtigt hingenommen[5], weniger in puncto Brexit. Zugegeben, das Forschungsfeld ist noch jung und in ständigem Wandel begriffen, doch hier scheint tatsächlich einer dieser seltenen Fälle vorzuliegen, in dem sich nahezu alle einig sind, und zwar weil die Faktenlage wenig Spielraum lässt. Karen Smith, Professorin für Internationale Beziehungen an der LSE, sieht das ähnlich: „Regarding the economic consequences of Brexit, there are few voices in the scientific community that would disagree that Brexit will have a negative impact on both parties.“
Smith sieht noch einen Grund für Zusammenhalt. Der Brexit bedeutet auch erhebliche Einschnitte in die Budgets chronisch unterfinanzierter britischer Forschungseinrichtungen. Seit 2014 haben diese über 1,4 Milliarden Euro aus aufgefüllten EU-Töpfen erhalten. Zudem könnte das Ende der Freizügigkeit Großbritannien als Magnet für ForscherInnen vom Kontinent beschädigen. Universitäten im ganzen Land haben seit 2016 eigene Positionspapiere veröffentlicht. Solidarität mit KollegInnen und EU-Studierenden zieht sich durch diese Statements. Auch wenn das die Fakten zum Brexit nicht verändern kann, erklärt es doch die ungewöhnliche Entschlossenheit mit der sich WissenschaftlerInnen aller Disziplinen gegen den Brexit aussprechen. In einem Berufsfeld, das ansonsten von Uneinigkeit lebt, ist das doch eine willkommene Abwechslung.
Quellen:
[1] Bailes, Alyson (1996): „European Defence and Security: The Role of NATO, EU and WEU“, Security Dialogue, 27 (1): 55-64, p. 56
[2] The Economist am 1.12.2018
[3] The Economist am 24.11.2018
[4] Clarke, Harold, Matthew Goodwin und Paul Whiteley (2017): Brexit: Why Britain Voted to Leave the European Union, Cambridge: Cambridge University Press.
[5] für eine Debatte zum liberal bias in der Sozialpsychologie s. Skitka, Linda (2012): „Multifaceted Problems: Liberal bias and the Need for Scientific Rigor in Self-Critical Research“, Perspectives on Psychological Science, 7 (5): 508-511.