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Alte und aktuelle Arenen der Demütigung

Ute Frevert legt in ihrem aktuellen Buch „Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht“ die letzten 250 Jahre der Beschämung und Demütigung als soziale und politische Machttechnik frei. Sie zieht einen breiten Bogen von den mittelalterlichen Schand- und Ehrstrafen, den Anfängen der internationalen Beziehungen und der heutigen Praxis der shame sanctions in den USA. Dabei wird klar, dass der Weg zu einem humanistischen Strafvollzug, zu einer prügelfreien Schule und zu einer Politik des Völkerrechts ein zäher und keineswegs linearer war. Trotz des sozialhistorischen Fortschritts zeigen sich heute durch soziale Medien und Peergroups alte Prangerphänomene im neuen Gewand.

Macht macht Beschämung und Demütigung erst mächtig

Frevert beginnt im Buch mit einer Begriffsklärung. Während Beleidigungen das Element der Macht fehlt, sind Beschämung und Demütigung immer in Machtasymmetrien eingebunden. Während die Beschämung das Ziel hat, einem Gruppenmitglied eine Lektion zu erteilen, um ihn dann wieder in die Gruppe aufzunehmen, hat es die Demütigung auf Ausgrenzung und Abschottung abgesehen. Es geht um ein „Wir gegen dich“, das unumstößlich gesetzt ist. Die individuelle Folge von Beschämung und Demütigung ist Scham und Verlust von Selbstachtung. Dabei steht in Zeiten des Individualismus das Individuum viel verwundbarer da als in der vormodernen Ära. Und gerade weil heute die Erwartungen gegenüber respektvollen Umgang hoch sind, wächst die Sensibilität für das, was als persönliche Demütigung wahrgenommen wird.

Das Buch macht deutlich, dass Ehre in den vormodernen Gesellschaften durch alle Gesellschaftsschichten hoch bewertet war. Und genau deshalb konnten Beleidigungen und Schandstrafen so empfindlich wirken. Aufgrund seiner semantischen Vieldeutigkeit verlor die Ehre im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Europa jedoch als Leitbegriff an Wirkkraft, während Würde als Konzept in den Vordergrund rückte. Würde wird aus dem Menschsein an sich abgeleitet, während Ehre an der individuellen und sozialen Person, etwa in Form der Gruppenzugehörigkeit, anhaftet.

Heute ist die soziale Gruppe oder der soziale Stand nicht mehr so zentral in der gesellschaftlichen Platzzuweisung. Sie besitzen weniger Macht, weil Individuen zunehmend selbst ihren Platz beanspruchen. Personen wechseln den Arbeitsplatz, Verein oder Wohnort und beziehen ihren Selbstwert nicht mehr alleine durch den sozialen Verband, zu dem sie gehören, sondern mehr durch Identifikationsprozesse. Ehre wird heute mehr als Respekt, Achtung und Anerkennung verhandelt. Der egalitäre Ansatz in den modernen westlichen Gesellschaften hat dazu geführt, dass Praktiken der öffentlichen Beschämung und Demütigung in Misskredit geraten sind. Doch davor gab es jahrhundertelang Stoff für Beispiele der Demütigung im Strafvollzug, in der Erziehung und in den politischen Machtverflechtungen in Europa. Die Historikerin Ute Frevert schöpft in ihrem Buch daher aus dem Vollen.

Wer hat`s erfunden?

Der erste Hauptteil des Buches ist „Pranger, Prügel und Publizität“ gewidmet. Zusammenhänge zwischen der Strafanordnung des Prangers, Prügelstrafen und der Veröffentlichung werden hier gut hergestellt. Denn auch wenn viele von uns auf dörflichen Marktplätzen ihnen heute wenig Beachtung schenken: Prangersäulen waren Jahrhunderte lang ein wichtiger sozialer Strafplatz. Seit 1200 tauchen Pranger in den europäischen Gerichtsquellen auf. Schand- und Ehrstrafen – also Straftaten wie Diebstahl oder Sexualdelikten (z.B. Homosexualität) – wurden bis Mitte des 19. Jahrhunderts unter „Ausstellung“ des Publikums an den Pranger gestellt. Das Publikum hatte dabei die Doppelrolle der ZuschauerInnen und TeilnehmerInnen.  Die Mitwirkung an der Bestrafung wie Beschimpfen oder mit Gegenständen bewerfen war ausdrücklich erwünscht.

Diesen Umgang mit Büßenden entnahm die weltliche Gerichtsbarkeit wie Ute Frevert beschreibt von den Rüge- und Kirchenbräuchen. Denn auch SünderInnen mussten sich bis in 16. Jahrhundert hinein  vor dem Altar niederwerfen und öffentlich um Vergebung bitten. Später wurden die Selbstdemütigungen seltener und SünderInnen mussten im Büßergewand vor der Kirche stehen oder auf einem bestimmten Platz sitzen. Am Schluss wurden sie wieder Teil der Gemeinschaft.

Die Strafpraxis kam nicht ohne Standesunterschiede  aus: Reiche kauften sich durch Umwandlung der Prügelstrafen in Geldstrafen frei (oder konnten Untergebene befehlen anstelle von ihnen bestraft zu werden), Arme wurden geprügelt. Am Beginn des 18. Jahrhunderts kam es bei Exekutionen von Prangerstrafen immer wieder zu Revolten, weil das Publikum seiner strafenden Rolle nicht mehr nachkam und auch die Gefahr von Aufständen größer wurde. Das war nicht das Ende der Strafe, aber es war das Ende der öffentlichen Strafe und die Geburtsstunde einer Institution: dem Gefängnis. Die Prügelstrafe fand jedoch weiterhin  statt, nur ohne Publikum. Erst Jahrzehnte später wurde aus dem Strafziel der Abschreckung jenes der Besserung, viel später dann jenes der Resozialisierung.

Das Ende der Prügelstrafe geht einher mit politischen und gleichzeitig gesellschaftlichen Umwälzungen: es begann mit den Gesetzbüchern der französischen Revolution und spätestens mit den revolutionären bürgerlichen Aufbegehren der 1848 Jahre wurde sie abgeschafft. Praktiker und Theoretiker erkannten was KantianerInnen schon lange wussten, dass die Züchtigung als Körperstrafe entwürdigend war und auch mit den neuen bürgerlichen und sozialen Rechten nicht mehr vereinbart werden konnte. Und die Herrscher mussten nachziehen.

Familie, Schule, Militär als alte Beschämungsarenen

Doch nur weil sich der Staat im Strafvollzug  als Oberbeschämer zurückzog, kam es nicht zu einem Ende der Beschämungstaktiken. Das zweite Hauptkapitel zeigt, dass andere Beschämungsinstanzen seither weiter wirken, sie kommen in jeder sozialen Gruppe und vor allem in der Adoleszenz vor: in Familien, unter KollegInnen am Arbeitsplatz  oder auch unter MitschülerInnen. Bis in die 1960iger Jahre wendeten LehrerInnen Prügelstrafen und Züchtigungsstrategien an. Jugendbücher aus dieser Zeit bieten eine gute Zeitreise. Etwas später kamen dann Jugendbücher, die das Mobbing und Bullying der Peergroup thematisierten. Mobbing unter Kindern und Jugendlichen rangiert seitdem auf der Agenda der SozialarbeiterInnen weit oben.

Medien als neue symbolische Pranger

Doch ganz ohne „Ausstellung“ ging es auch in der gesellschaftlichen Arena nicht. Die Öffentlichkeit wurde zwar nicht mehr bei der Strafvollziehung beigezogen, doch über die Veröffentlichung des Strafurteils wurde bis in den Beginn der 20. Jahrhunderts Öffentlichkeit hergestellt. Verurteilte Menschen wurden in Deutschland mit ganzen Namen, Adresse und Strafurteil bekannt gemacht.

„Gleichzeitig wechselten die Schauplätze der Macht und deren Akteure, auf der Täterseite ebenso wie bei den Opfern: der Staat rückte von Beschämung als Mittel der Normkontrolle zusehendes ab und überließ das Feld der Gesellschaft, die ihrerseits immer neue Beschämungsanlässe und Zielgruppen identifizierte. Dabei übernahmen Medien als Vermittler, Verstärker oder Initiatoren eine wichtige moralpolitische Funktion. Sie wirkten und wirken als symbolischer Pranger, auf dem missliebige Mitbürger ausgestellt und außenpolitische Handlungen auf ihren Demütigungswert geprüft werden. Vor diesem Pranger ist heute niemand mehr sicher.“ (S. 208)

Ute Frevert macht deutlich, dass das öffentliche Bloßstellen immer mit Demütigung einhergeht, egal ob Steuersünder, Umweltverschmutzer oder Straftäter benannt werden. Zudem erzeugt das Internet im Vergleich zu kurz verfügbaren Tagesblättern einen ewigen Speicher, der lange den Ruf der Einzelperson schädigen kann.

Politische Mikro- und Makroebene

Ute Frevert setzt sich im dritten Teil ihres Buches mit dem Beginn der internationalen Politik, den sogenannten Gesandtschaftssystemen auseinander. Hier war Ehre und deren mögliche Verletzung ein großes Thema. Bevor das internationale Recht Bestandteil internationaler Beziehungen wurde, waren der Umgang sehr auf das gegenseitige in-Beziehung-treten fokussiert. Fragen der Dauer der Verbeugung oder der Verweigerung bestimmter zeremonieller Vorgaben (z.B. Kopfbedeckung, Knien) bekamen deswegen hohen Wert und auch Informationsgehalt. Und je öffentlicher Politik wurde, desto sichtbarer und folgenreicher waren Demütigungspraktiken zwischen zwei Ländern. Das Knien als Ehrenbekundung, ursprünglich eine katholische Geste, wurde ab dem Mittelalter ins weltliche Zeremoniell überführt und hielt sich jahrhundertelang, der Knicks sogar noch länger. Diplomatische Machtspiele wurden über das Zeremoniell gezielt vorbereitet und für politische Handlungen instrumentalisiert.

So interessant die historischen Beispiele in diesem Buchteil auch sind, sie wirken unsystematisch zusammengestellt. Während die ersten beiden Hauptkapitel in sich stringent aufgebaut sind und eine verdichtete interessante kulturgeschichtliche Zeitreise bieten, lässt das Buch am Ende leicht nach. Zudem werden die immer wieder eingestreuten interessanten geschlechtsspezifischen und kulturellen Besonderheiten nicht wirklich herausgearbeitet und bleiben fragmentarisch den LeserInnen in ihrer Einschätzung vorbehalten.

Ohne Publikum kein Spektakel

„In der historischen Rückschau lässt sich deshalb als Tendenz feststellen: je liberaler der Staat und seine Diener, desto größer die Scheu, Recht und Moral zu vermischen und Bürger öffentlich zu beschämen, und desto nachhaltiger die Bemühungen, sie vor Erniedrigung durch Dritte zu schützen.“(S. 81)

Und das Buch macht auch deutlich, dem Publikum bzw. der Öffentlichkeit kommt eine große Bedeutung zu. Durch sie wird eine durch eine Beschämungsinstanz artikulierte Normverletzung bestätigt oder nicht. Ein Spiel braucht immer MitspielerInnen und ZuschauerInnen. Das gilt für die peer group genauso wie für die Politik.

 

Ute Frevert (2017): Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag

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Anna Schopf

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