reflektive

Können Demokratie und Menschenrechte „verfassungskonform“ abgeschafft werden?

Kickl, Gudenus und Belakowitsch-Jenewein haben Klartext gesprochen: Politik steht über dem Recht. Welchen Schutz bieten Verfassungen gegen die Abschaffung von Demokratie und Menschenrechte – in Österreich und anderswo?

Dass FPÖ-PolitikerInnen der Meinung sind, dass Recht den Wünschen der Politik zu folgen hat, ist nicht überraschend. Bereits in der Vergangenheit haben nicht nur einzelne FPÖ-PolikerInnen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in Frage gestellt. Offizielle Texte der Gesamtpartei haben wiederholt klargestellt, dass die FPÖ die EMRK ersetzen will und daraus resultierende Rechte nicht für alle Menschen, ja nicht einmal für alle österreichischen StaatsbürgerInnen, anerkennen will. Auf Seite 100 des Handbuchs freiheitlicher Politik etwa beklagt die Partei, dass die Nichtdurchführung von Volksgruppenfeststellungen dazu führe, dass „autochthone Volksgruppen … dann letztendlich gleich behandelt (würden, Anm. d. Verf.) wie jene Zuwanderergruppen, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich ansässig wurden“. Um zum Schluss zu kommen: „Zugewanderte Personengruppen dürfen dabei den autochthonen Volksgruppen rechtlich nicht gleichgestellt werden“ (Seite 101). Die Rechte, die die FPÖ Menschen zuerkennen möchte, orientieren sich somit an der Konstruktion „autochthon“ und nicht etwa an der Staatsbürgerschaft oder dem im Art. 1 der EMRK festgehaltenen Prinzip, wonach Staaten die Menschenrechte „allen ihrer Jurisdiktion unterstehenden Personen“ zusichern.

Aber können Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Österreich überhaupt abgeschafft werden? Lässt die österreichische Verfassung dies zu?

Von der Magna Charta zur Ewigkeitsklausel des (deutschen) Grundgesetzes

Die Frage, wie die Ausschaltung verfassungsrechtlicher Garantien verhindert werden kann, stellt sich seit Jahrhunderten. Schon im Jahr 1215 musste der englische König in der Magna Charta zugestehen, „nie, weder durch uns selbst noch durch Andere, etwas zu bewerkstelligen, wodurch eine dieser Konzessionen und Freiheiten widerrufen oder geschmälert wird; und im Fall etwas der Art erlangt werden sollte, so soll es null und nichtig sein.

Die Unabhängigkeitserklärung der USA erklärt 1776 schon im zweiten Absatz das Recht, Regierungen abzusetzen, wenn sie die grundlegenden Rechte der Menschen verletzen, und bestimmt es sogar zur „Pflicht, eine solche Regierung zu beseitigen und sich um neue Bürgen für ihre zukünftige Sicherheit umzutun.“ Der Anspruch, dass Grund- und Freiheitsrechte nicht einschränkbar seien, wird in der Folge der Verfassung von 1787 vorangestellt: „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, … und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren, setzen und begründen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika.“ Die Verfassung der USA hat also eine Art „Ewigkeitsgarantie“ für Demokratie und „liberale Grundrechte“ (also Menschenrechte wie Freiheit der Meinung, Versammlungsfreiheit, Schutz des Lebens, Schutz vor Verfolgung etc.).

Eine ausdrückliche „Ewigkeitsklausel“ sieht Art. 79 Abs. 3 des deutschen Grundgesetzes vor: Grund-, Freiheits- und Menschenrechte, das Sozialstaatsprinzip, der Bundesstaat, der Rechtsstaat (und im Übrigen auch ein damit zusammenhängendes Widerstandsrecht im Fall der Abschaffung diese Prinzipien) können nicht abgeschafft werden.

HüterInnen der Menschenrechte vor dem Gebäude des Europarats in Strassbourg

Auch die etwas jüngere portugiesische Verfassung von 1976 kennt eine, wenn auch nicht derart ausdrückliche, Ewigkeitsklausel. Ihr Art. 9 erklärt es zur Aufgabe des Staates, die „Grundrechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten“ sowie die „Demokratie zu verteidigen“ und „die demokratische Teilnahme“ sicherzustellen. Stellt sich die Frage: Sind Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte in Österreich für die Ewigkeit geschützt? Oder anders gefragt: wer schützt uns vor den freiheitsbeschränkenden Ideen der Freiheitlichen?

Österreichische Bundesverfassung: Volksabstimmung und ihre Grenzen

Auf erstem Blick gibt es im Bundesverfassungsgesetz (B-VG) keine Bestimmung, die eine Abschaffung der Demokratie, des Rechtsstaates oder der Menschenrechte behindern würde. Artikel 44 sieht lediglich vor, dass „jede Gesamtänderung der Bundesverfassung, … einer Abstimmung des gesamten Bundesvolkes zu unterziehen“ ist. Nach einem Nationalratsbeschluss mit Zwei-Drittel-Mehrheit müsste also eine Volksabstimmung durchgeführt werden, bei der mehr als 50% der Abstimmenden der Verfassungsänderung zustimmen. Nachdem die Bundesverfassung nicht ausführt, was eine „Gesamtänderung“ der Verfassung sein soll, haben Rechtswissenschaft und Verfassungsgerichtshof sechs Grundprinzipien der Bundesverfassung (die „Bauprinzipien“) herausgearbeitet, die jedenfalls einer Volksabstimmung zu ihrer grundlegenden Veränderung bedürfen. Dazu zählen Demokratie, das republikanische Prinzip, den Föderalismus, Rechtsstaat, Menschenrechte und Gewaltenteilung. Eine solche Volksabstimmung gab es in Österreich erst einmal, nämlich zur Frage des EU-Beitritts (1995).

Das mag etwas allgemein erscheinen, ist aber durch andere Festlegungen im B-VG deutlich erweitert. So etwa erklärt Art. 9 B-VG die “allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechtes“ als „Bestandteile des Bundesrechtes“. Jedenfalls zu den anerkannten Regeln der Völkerrechts zählt die Europäische Menschenrechtskonvention. Ein Nationalratsbeschluss mit Zwei-Drittel-Mehrheit und nachfolgender Volksabstimmung zur „Abschaffung“ der EMRK in Österreich würde also die Frage aufwerfen, ob diese nicht auf Grund der Art. 9 B-VG dennoch weiterhin gültig wäre.

Der Verfassungsgerichtshof: Bauprinzipien vs. „demokratischer Mehrheit“

Es gibt also durchaus Gründe, anzunehmen, dass wesentliche Elemente der Bundesverfassung, darunter Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte, nicht abgeschafft werden können. Unmittelbar mit dieser konkreten Frage hat sich der Verfassungsgerichtshof noch nicht beschäftigen müssen. In einigen Fällen hat er aber – zumindest indirekt – dazu Stellung genommen.

Als das Land Vorarlberg im Jahr 1999 die Möglichkeit einer erzwingbaren Volksabstimmung nach Volksbegehren in die Landesverfassung aufnahm, hob der Verfassungsgerichtshof die entsprechende Bestimmung auf, weil sie „dem Landtag verwehrt, die Frage der Bundesverfassungskonformität der begehrten Regelung zu beurteilen und im Fall ihrer Verfassungswidrigkeit von einer Beschlussfassung Abstand zu nehmen.“ Das Erkenntnis des VfGH hatte im Jahr 2001 für erhebliche Aufregung gesorgt. Zu Unrecht: Der VfGH verwarf nicht Volksabstimmungen generell, sondern sah den Verstoß gegen die Bundesverfassung in den fehlenden Schutzfunktionen gegen Verfassungswidrigkeiten. Dass der VfGH damit nicht völlig falsch gelegen sein könnte, zeigt das gegenwärtige Schlamassel um den Brexit im Vereinigten Königreich (UK). In der Volksabstimmung zum Brexit wurde kein Gesetz zur Abstimmung vorgelegt, sondern eine mit ja oder nein beantwortbare Frage gestellt. Nun ist nicht so ganz klar, wie die Antwort auf diese Frage zu bewerten ist (siehe dazu reflektive: Was ist nur mit Großbritannien los?). Das Verlangen des VfGH, dass Volksentscheide verfassungsrechtlichen Maßstäben genügen müssen, ist nicht undemokratisch, sondern die Forderung nach einem Schutz gegen die Aushöhlung der verfassungsrechtlichen Garantien durch Mehrheitsentscheidungen..

VfGH hebt Bundes-Verfassungsrecht auf

Im Jahr 2001 hatte der Verfassungsgerichtshof mit einer öffentlich kaum bemerkten, jedoch bemerkenswerten Entscheidung eine Verfassungsbestimmung aufgehoben. Im langwierigen Prozess der Entwicklung des Vergaberechts hob der Verfassungsgerichtshof mehrere Landesbestimmungen auf. Der Nationalrat „wehrte“ sich mit einer Verfassungsbestimmung, die am 1. Jänner 2001 geltende Landesbestimmungen zum Vergaberecht pauschal als „nicht verfassungswidrig“ erklärte. Damit wollten SPÖ und ÖVP dem Verfassungsgerichtshof die Möglichkeit nehmen, weiterhin diese Bestimmungen aufzuheben.

Der VfGH hob jedoch diese Verfassungsbestimmung auf, und zwar aus quasi formalen Gründen. Eine Einschränkung des Rechtsstaatsprinzips – und nichts anderes ist es, wenn das Parlament dem Verfassungsgericht verbietet, ein Gesetz zu prüfen – bedarf jedenfalls einer Volksabstimmung, weil sie eine Gesamtänderung der Verfassung darstellt. Diese Volksabstimmung hatte es nicht gegeben. Punkt.

Die Aufhebung einer Verfassungsbestimmung durch den VfGH war die Spitze eines seit Mitte der 1980er bestehenden Konflikts zwischen VfGH und Regierungsparteien: Die Beschränkung der Zahl an zu vergebenden Taxi-Konzessionen war in Verfassungsrang gehoben worden, nachdem der VfGH die entsprechenden einfachgesetzlichen Bestimmungen aufgehoben hatte. Und mehrere Erkenntnisse des VfGH zur Familienbesteuerung, die übrigens auch der schwarz-blauen Regierung bei der „Indexierung“ der Familienbeihilfe und beim „Familienbonus“ Sorgenfalten ins Gesicht treiben, waren sowohl von SPÖ als auch von der ÖVP – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – als „politisch“ kritisiert worden.

Im Grunde ging es dabei um die Frage, die auch diesem Beitrag vorangestellt ist: Agiert der VfGH nur auf Basis des Wortlauts des Verfassungsrechts? Oder hat er auch quasi die Grundsubstanz der modernen, liberalen Demokratie zu schützen? Also Menschenrechte, Rechtsstaat, Sachlichkeitsprinzip, Gleichbehandlung, Gewaltentrennung,…?

In seinem Prüfbeschluss zur Causa Vergaberecht hatte der VfGH die Frage aufgeworfen, „ob das Bundesverfassungsrecht überhaupt dazu ermächtigt, sich selbst außer Kraft zu setzen“. Im Verfahren selbst brauchte er diese Frage aus bereits beschriebenen Gründen nicht zu beantworten. Da keine Volksabstimmung stattgefunden hatte, war die Verfassungsbestimmung sowieso nicht verfassungsgemäß zu Stande gekommen. Trotzdem fügte der VfGH quasi ohne Not einen interessanten Satz in seine Entscheidung: „Zum Inhalt des qualifizierten Verfassungsrechts – wie der Verfassungsgerichtshof vorläufig annimmt – zählt, daß es nicht dazu ermächtigt, sich selbst auszuschalten.“

Anders formuliert: Der Verfassungsgerichtshof nimmt an, dass auch eine Volksabstimmung nicht dazu ermächtigen würde, das Rechtsstaatsprinzip außer Kraft zu setzen.

Ewigkeitsklausel als gemeinsames Ziel gegen Schwarz-Blau?

Die Eingangsfrage, ob Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte in Österreich verfassungskonform mit einer Volksabstimmung abgeschafft werden können, beantwortet sich damit nicht automatisch. Es gibt aber zahlreiche Gründe zur Annahme, dass der österreichische Verfassungsgerichtshof eine solche Abschaffung für ungültig erklären würde (sofern er noch handlungsfähig wäre). Und damit stellt sich konsequenterweise auch die Frage, wie mit einer politischen Position umzugehen ist, die eine Abänderung dieses Rechtsbestandes anstrebt und seine grundsätzliche Bindungswirkung für die gewählten VertreterInnen in Frage stellt.

Nicht zuletzt deshalb mag daher gerade jetzt der richtige Zeitpunkt sein, eine „Ewigkeitsklausel“ in der Art des deutschen Grundgesetzes in Österreich anzustreben – und etwa mit einem Volksbegehren anzuregen. Das wäre eine fast logische Konsequenz auf die Position der FPÖ, des Innenministers und seiner ideologischen HelfershelferInnen… und könnte ein gemeinsames Projekt der Oppositionsgruppen gegen diese Bundesregierung sein. Vor allem auch, weil das schwarz und blau ganz schön in die Bredouille bringen könnte: Sie müssten sich klar deklarieren, ob sie für oder gegen eine Ewigkeitsklausel sind. Und gegebenenfalls argumentieren, warum sie dagegen sind. Denn wer sollte gegen eine Ewigkeitsklausel für Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte sein? Und warum sollte er oder sie das sein

Weil es der Politik rechtliche Grenzen setzt?

Abriegelung der Wiener Abschaffung der Demokratie – Polizei gegen Mai-Aufmarsch 1933
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Lukas Wurz

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